00:00:07 Einführung und Diskussion über Paradigmenwechsel in der supply chain Planung.
00:00:51 Hintergrund von Professor David Simchi-Levi, seine akademische Arbeit und die von ihm gegründeten Unternehmen.
00:02:43 Neuer Kurs über Demand Planning und Analytics; Fokus auf Digitalisierung, Analytics und Automatisierung.
00:04:22 Ausgewogenheit zwischen supply chain Effizienz und Resilienz sowie die Herausforderungen bei der Messung von Resilienz.
00:07:08 Risikobewertung in supply chains und die Bedeutung von maschinengesteuerten Berechnungen gegenüber Intuition.
00:09:47 Vorhersage des supply chain Zustands Wochen im Voraus.
00:10:20 Die Arbeit des MIT Teams zur supply chain Resilienz und Pandemievorhersage.
00:12:15 KPIs vs. KPPs und die Bedeutung prädiktiver Daten.
00:15:35 Umgang mit Unsicherheit und unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten in Vorhersagen.
00:18:10 Zeit zum Überleben und das Erkennen versteckter Risiken sowie Kosteneinsparungsmöglichkeiten.
00:19:32 Die Bedeutung erklärbarer Machine Learning Modelle in Entscheidungsprozessen.
00:20:56 Die Rolle von Supply Chain Scientists bei der Entwicklung erklärbarer Kennzahlen.
00:24:17 Herausforderungen, denen Unternehmen bei der Handhabung von Black Box Prognosen gegenüberstehen.
00:25:51 Naturgesetze in supply chain und ihre Bedeutung.
00:27:34 Beispiele für Naturgesetze im supply chain Management.
00:29:16 Diskussion über wissenschaftliche Debatten und die Bedeutung mathematischer Grundlagen beim Aufbau von Algorithmen und Rahmenwerken.
00:30:57 Die Bedeutung von Flexibilität im design von supply chain und dessen Einfluss auf Servicelevel, Inventar und Reaktionszeit.
00:32:29 Thematisierung des wirtschaftlichen Kompromisses zwischen Flexibilität und der Notwendigkeit grundlegender Theorien in der supply chain Optimierung.
00:35:44 Fokus auf Rahmenwerke statt einzelner Lösungen, um der sich verändernden Natur von supply chains gerecht zu werden.
00:37:18 Vorstellung von vier Rahmenwerken für die supply chain Digitalisierung, beginnend mit einer einheitlichen Sicht auf die Nachfrage.
00:38:14 supply chain Segmentierung für effektive Strategien.
00:38:53 Fokus auf S&OP und Datenanalytik für die Planung.
00:39:37 Jonas diskutiert die Komplexität von Nachfrage- und Unternehmenssystemen.
00:43:01 Herausforderungen beim Extrahieren und Verstehen von Nachfragedaten.
00:45:36 Der Wandel von Prognose und Planung zu numerischen Artefakten. {< timer “00:47:14” >}} Diskussion darüber, dass Entscheidungsträger sich auf Ergebnisse verlassen, anstatt auf Vorhersagen oder Pläne.
00:48:22 Aufkommende Algorithmen im supply chain Lernen und bei der Optimierung sowie negative Trends.
00:49:33 Fehlgeleitetes Konzept, die Fertigung näher an die Marktnachfrage für Resilienz zu verlagern.
00:50:09 Integration von Machine Learning und Optimierung, offline und online Lernen.
00:53:22 Herausforderungen mehrschichtiger Unternehmenssoftware und neue algorithmische Paradigmen zur Vereinfachung von Prozessen.
00:56:37 Diskussion über die IT-Komplexität im supply chain Management.
00:57:57 Die Notwendigkeit von Werkzeugen, um komplexe Konzepte wie Resilienz und Risikomanagement zu bewältigen.
00:58:43 Die Vorteile und Grenzen von Microsoft Excel bei der Entscheidungsfindung im supply chain.
00:59:30 Die Zurückhaltung, vor der Pandemie in supply chain Digitalisierung zu investieren.
01:00:20 Die Chance, die Unternehmensleistung mit moderaten Investitionen in supply chain Digitalisierung zu verbessern.

Zusammenfassung

In diesem Interview moderiert Nicole Zint eine Diskussion mit Joannes Vermorel, Gründer von Lokad, und Prof. David Simchi-Levi, einem MIT-Professor, über supply chain Optimierung und die Rolle der Technologie bei der Entscheidungsfindung. Sie betonen die Bedeutung, Effizienz mit Resilienz in Einklang zu bringen, und den Einsatz von Daten, Analytics und Automatisierung zur Bewältigung von Risiken. Key Performance Indicators (KPIs) und Key Performance Predictors (KPPs) werden als wesentliche Konzepte für eine proaktive Entscheidungsfindung eingeführt. Die Experten diskutieren außerdem die Bedeutung von Erklärbarkeit in der KI, “Naturgesetze” in supply chain management, Flexibilität und die wirtschaftlichen Trade-offs zwischen Flexibilität und Modellierung. Das Gespräch hebt die Notwendigkeit hervor, dass Unternehmen ihre Geschäfte digitalisieren, um zukünftige Herausforderungen und Chancen anzugehen.

Ausführliche Zusammenfassung

In diesem Interview spricht Moderatorin Nicole Zint mit Joannes Vermorel, Gründer von Lokad, und Prof. David Simchi-Levi, einem MIT-Professor und Autor von über 300 Publikationen, über supply chain Optimierung und die Rolle der Technologie in der Entscheidungsfindung. Die Diskussion untersucht die Paradigmen des Lernens und der Anpassung im supply chain Management, mit einem Schwerpunkt auf der Integration von Digitalisierung, Analytics und Automatisierung.

Prof. Simchi-Levi hebt hervor, dass der aktuelle Zustand von supply chains sich erheblich von vor einem Jahrzehnt unterscheidet und Unternehmen Effizienz mit Resilienz in Balance bringen müssen. Er stellt fest, dass Effizienz leicht anhand von Kostensenkungsstrategien messbar ist, während Resilienz schwerer zu quantifizieren ist. Die Integration von Daten, Analytics und Automatisierung spielt eine entscheidende Rolle, um diese Herausforderungen zu bewältigen, indem sie Unternehmen dabei hilft, versteckte Risiken zu identifizieren und zu mindern.

Joannes Vermorel stimmt zu, dass der Trade-off zwischen Resilienz und Effizienz wesentlich ist, und betont die probabilistische Natur der Risikomessung. Er argumentiert, dass ein Survivorship Bias in Marktbewertungen vorherrscht, was es schwierig macht, das volle Ausmaß der von Unternehmen getragenen Risiken einzuschätzen. Vermorel unterstreicht die Bedeutung eines maschinengesteuerten, berechnungsbasierten Ansatzes im Risikomanagement, anstatt sich ausschließlich auf menschliche Intuition zu verlassen.

Prof. Simchi-Levi führt die Konzepte der Key Performance Indicators (KPIs) und Key Performance Predictors (KPPs) ein. KPIs konzentrieren sich auf den aktuellen Zustand einer supply chain, während KPPs darauf abzielen, den zukünftigen Zustand der supply chain vorherzusagen. Der Professor betont die Bedeutung, Daten und Analytics zu nutzen, um KPIs mit KPPs zu ergänzen, was es Unternehmen ermöglicht, Korrekturmaßnahmen zu ergreifen, bevor Probleme entstehen.

Vermorel unterstützt die Unterscheidung zwischen KPIs und KPPs und hebt hervor, dass viele supply chain Direktoren sich der prädiktiven Komponente ihrer KPIs möglicherweise nicht bewusst sind. Er erklärt, dass reale supply chain Systeme oft unübersichtlich sind, mit Eingaben, die nicht vollständig zuverlässig sind, besonders bei der Vorhersage der Zukunft. Vermorel plädiert dafür, Unsicherheit anzunehmen, wenn es um zukünftige Vorhersagen geht, da selbst eine gut informierte Schätzung wertvolle Einblicke für die Entscheidungsfindung liefern kann.

Prof. Simchi-Levi verwendet eine Sportanalogie, um die Bedeutung von KPPs zu verdeutlichen, und bezieht sich dabei auf das berühmte Zitat des Hockeyspielers Wayne Gretzky: “I don’t skate to where the puck is, I skate to where the puck is going to be.” Im supply chain Management bedeutet dies, heute Entscheidungen zu treffen, um zukünftigen Herausforderungen zu begegnen, und so die Anpassungsfähigkeit und Resilienz der supply chain zu gewährleisten.

Die Diskussion dreht sich um supply chain Optimierung, das Annehmen von Unsicherheit, Szenarioanalysen und die Verwendung von Machine Learning und KI in der Entscheidungsfindung im supply chain.

Prof. Simchi-Levi betont die Bedeutung von Szenarioanalysen im supply chain Management. Durch die Erstellung mehrerer Szenarien, basierend auf verschiedenen Faktoren wie Nachfrageschwankungen oder Störungen, können Unternehmen versteckte Risiken und Kosteneinsparungsmöglichkeiten identifizieren. Er räumt jedoch die Grenzen dieses Ansatzes ein, indem er die Unvorhersehbarkeit realer Ereignisse anführt. Um diese Einschränkungen zu überwinden, schlägt er vor, Kriterien und Werkzeuge zu verwenden, die unabhängig von spezifischen Szenarien oder Lieferanteninformationen sind. Er nennt Beispiele von Konzepten, die er entwickelt hat, wie “time to recover”, “performance impact” und “time to survive”.

Sowohl Simchi-Levi als auch Vermorel stimmen in der Bedeutung von Erklärbarkeit im Machine Learning und in der KI für das supply chain Management überein. Sie argumentieren, dass menschliche supply chain Planer Empfehlungen einer Maschine nicht vertrauen werden, wenn sie nicht nachvollziehen können, wie die Maschine zu ihren Ergebnissen gekommen ist. Vermorel schlägt vor, dass ein menschlicher “Supply Chain Scientist” Seite an Seite mit KI-Algorithmen arbeiten sollte, um die prädiktive Optimierungslogik und deren erklärende Faktoren zu entwickeln, wobei die menschliche Expertise für effektive Entscheidungsfindung anerkannt wird.

Prof. Simchi-Levi führt das Konzept der “Naturgesetze” im Kontext des supply chain Management ein. Diese Gesetze stellen allgemeine Zusammenhänge zwischen verschiedenen supply chain Faktoren dar, die universell anwendbar sind, unabhängig von der Branche oder einer spezifischen supply chain. Er liefert Beispiele für solche Zusammenhänge, wie den Zusammenhang zwischen Inventar safety stock, service level und Variabilität. Diese Gesetze können Unternehmen dabei helfen, ihre supply chains besser zu steuern, indem sie die zugrunde liegenden Prinzipien ihrer Abläufe verstehen.

Vermorel unterstützt die Idee universeller Gesetze im supply chain Management und führt als Beispiel das Zipf-Gesetz an. Er erklärt, dass dieses Gesetz in verschiedenen Aspekten von supply chain Daten beobachtet werden kann, wie bei der Produktverteilung und der Größe der Lieferanten. Das Wissen um diese Gesetze kann entscheidend dazu beitragen, effektive Werkzeuge, Algorithmen und Rahmenwerke für die supply chain Optimierung zu entwickeln.

Die Diskussion berührt auch die Bedeutung von Flexibilität im supply chain Management. Prof. Simchi-Levi erklärt, dass Flexibilität zwar unerlässlich ist, jedoch nicht kostenlos zu haben ist. Unternehmen müssen verstehen, wie viel Flexibilität sie benötigen, wo sie darin investieren sollten und welche potenziellen Vorteile dies mit sich bringt. Mit Hilfe der Naturgesetze können supply chain Manager ihre supply chains flexibel gestalten und deren Einfluss auf verschiedene Aspekte wie service level, Inventar und Reaktionszeit quantifizieren.

Sie sprechen über die Bedeutung, ein Gleichgewicht zu finden und den wirtschaftlichen Trade-off zwischen Flexibilität und Modellierung. Der Fokus liegt darauf, ein Fundament verlässlicher Theorien im supply chain Management zu etablieren. Sie diskutieren auch die Notwendigkeit einer langfristigen Strategie, um ständige Veränderungen zu vermeiden. Professor Simchi-Levi erwähnt vier Rahmenwerke für die supply chain Digitalisierung, einschließlich einer einheitlichen Sicht auf die Nachfrage, supply chain Segmentierung und effektiver Planung. Joannes Vermorel betont die Komplexität von Daten und die Bedeutung von Werkzeugen zu deren Extraktion und Verarbeitung. Er beschreibt auch eine Methode, die sich auf die tägliche Ausführung ohne Pläne oder Prognosen konzentriert. Sie schließen mit einem Beispiel aus dem Modeeinzelhandel und wie Vorhersagen genutzt werden, um die supply chain zu steuern.

Es wurden die aufkommenden Trends und negativen Entwicklungen in der supply chain Optimierung erörtert. Die Gruppe diskutierte, wie das neue Normal von Störungen und Volatilität die supply chain Branche beeinflusst und wie Unternehmen ihre Managementstrategien neu überdenken müssen. Die Integration von Machine Learning und Optimierung wurde ebenfalls als Chance für bessere Entscheidungsfindung diskutiert, wobei offline und online Lernen zentrale Komponenten darstellen. Jedoch wurden die Komplexität moderner enterprise software und der Bedarf an besseren Werkzeugen zur Unterstützung der Entscheidungsfindung als negative Trends gesehen, die supply chain Initiativen behindern. Die Gruppe war sich einig, dass Unternehmen die Gelegenheit nutzen müssen, ihre Geschäfte zu digitalisieren, um zukünftigen Herausforderungen und Chancen zu begegnen.

Vollständiges Transkript

Nicole Zint: In der heutigen Episode diskutieren wir diese Paradigmen zum Lernen und Optimieren von supply chains. Wir fühlen uns geehrt, von Professor David Simchi-Levi begleitet zu werden. Heute werden wir über seine Arbeit und seine über 300 Publikationen sprechen. Professor, wie immer möchten wir damit beginnen, dass sich unsere Gäste vorstellen. Vielen Dank.

Prof. David Simchi-Levi: Hallo, Nicole. Hallo, Joannes. Es ist großartig, hier zu sein. Ich bin David Simchi-Levi und gehöre zur Fakultät des MIT. Ich bin schon lange Akademiker, und zwar seit über 21 Jahren am MIT. Parallel zu meiner akademischen Laufbahn habe ich jedoch auch einige Unternehmen gegründet. Das erste Unternehmen war im Bereich supply chain Analytics, ein Unternehmen, das 2009 Teil der IBM Technology Infrastructure wurde. Damals hatten wir etwa 350 Kunden, die unsere Technologie für die mehrstufige Bestandsoptimierung, supply chain Netzwerkdesign und verwandte Themen nutzten. 2011 gründete ich ein weiteres Unternehmen im Bereich Business Analytics. Der Fokus lag dabei nicht nur auf supply chain, sondern darüber hinaus. Dieses Unternehmen wurde 2016 Teil von Essential Technology. Anschließend gründete ich 2014 ein Cloud-Technologie-Unternehmen, das 2018 Teil von Accenture wurde. Derzeit bin ich unternehmensfrei und konzentriere mich auf meine Forschung am MIT. Am MIT leite ich das MIT Data Science Lab. Das Data Science Lab ist eine Partnerschaft zwischen dem MIT und etwa 20-25 Unternehmen, die sich darauf konzentriert, einige der wichtigsten Herausforderungen zu bewältigen, indem Daten, Modelle und Analytics zusammengeführt werden. Hoffentlich haben wir die Gelegenheit, über einige der spannenden Arbeiten und Chancen zu sprechen, die wir heute auf dem Markt sehen.

Nicole Zint: Das ist ein sehr beeindruckender Hintergrund, muss ich sagen, Professor. Zusätzlich dazu haben Sie kürzlich einen Kurs, Demand Planning and Analytics, gestartet, in dem Sie diese drei aufkommenden Technologien erwähnt haben: Digitalisierung, Analytics und Automatisierung. Warum sind diese gerade so beliebt?

Prof. David Simchi-Levi: Es ist interessant, dass Sie die neue Klasse erwähnt haben, die wir gerade rund um Nachfrage- und supply chain analytics gestartet haben. In dieser Klasse, wie Sie schon andeuteten, konzentrieren wir uns auf die Integration von Daten, Analytics und Automatisierung. Es geht wirklich um die Integration dieser Fähigkeiten, durch die Unternehmen einige der herausforderndsten Bereiche ihres Geschäfts angehen können. Denken Sie an supply chains mit langen lead times, an den signifikanten Anstieg der Logistikkosten aufgrund von Ölpreisschwankungen und an supply chain Unterbrechungen, die wir in den letzten drei bis vier Jahren erlebt haben. Vom US-China-Handelskrieg über COVID und den Ukraine-Krieg bis hin zum Klimawandel – all dies hat Unternehmen dazu gezwungen, ihre supply chain Strategie neu zu überdenken.

Nicole Zint: Das Normale ist völlig anders als vor zehn Jahren. Wie managed man heutzutage supply chain effektiv? Es ist anders als das, was Unternehmen vor fünf bis zehn Jahren taten, und ich fasse das mit einem Beispiel zusammen. Bis etwa 2020 lag in der Branche viel Fokus auf supply chain Effizienz – von Lean über Outsourcing bis Offshoring. Unternehmen konzentrierten sich darauf, ihre supply chain Kosten drastisch zu senken. Aber was sie in den letzten drei Jahren beobachtet haben, ist die Notwendigkeit, supply chain Effizienz und Resilienz auszubalancieren. Effizienz lässt sich leicht messen – man fokussiert sich auf Kosten. Resilienz ist schwer zu messen. Wie misst man Resilienz? Wie identifiziert man versteckte Risiken? Das alles dreht sich um die Technologietrends, die ich gerade erwähnt habe: Digitalisierung, Analytics und Automatisierung. Also, Joannes, was halten Sie von diesem Kompromiss zwischen Resilienz und Effizienz, den der Professor gerade angesprochen hat?

Joannes Vermorel: Es ist in der Tat ein Trade-off im wirtschaftlichen Sinne, denn Resilienz ist typischerweise nicht kostenlos. Es geht darum, Optionen aufzubauen, die man unterhalten und etablieren muss. Das Interessante ist, dass ich Professor Simchi-Levi voll und ganz zustimme, insofern als es sehr schwierig zu messen ist, weil man von einer probabilistischen Perspektive auf die Zukunft spricht. Man betrachtet Dinge, die passieren könnten oder auch nicht. Zum Beispiel: Wenn man investiert, um eine zweite Lieferantenlinie aufzubauen, die zufällig nearshore ist, sie aber in diesem Jahr nicht nutzt, sieht man die Kosten, aber nicht das bloße Vorhandensein der Option, die einen retten würde, falls man sie bräuchte.

Interessant ist, dass der Survivor Bias überall zu finden ist. Die einzigen Unternehmen, die man sieht, sind diejenigen, die noch am Markt sind. Die, die einen fatalen Fehler gemacht und sich aus dem Markt zurückgezogen haben, sind nicht mehr da – man sieht sie eben nicht. Wenn man sich umschaut und eine Umfrage durchführt, zeigt sich im Durchschnitt, dass die Leute viel mehr Risiko eingehen, als angemessen wäre. Der Grund für diesen Bias ist, dass ständig diejenigen ausscheiden, die zu viel Risiko eingegangen sind; und wenn man eine Umfrage macht, gehören diese nicht mehr dazu, weil man nur aktive Unternehmen befragt.

Der Trick – oder vielmehr mehr als ein Trick, eines der ersten Paradigmen zur Risikomessung – besteht darin, Potenziale zu bewerten, die meistens ungenutzt bleiben, aber dennoch sehr real sind. Wenn Sie einen Würfel werfen und nur eine 3%ige Chance haben, ein kritisches Ereignis zu treffen, das Ihr Unternehmen beenden könnte, und das Jahr für Jahr tun, dann ist es im Laufe eines halben Jahrhunderts fast sicher, dass Ihr Unternehmen durch diese langfristigen Ereignisse verschwindet.

Nicole Zint: Supply chains wurden typischerweise von spezialisierten, also sehr großen, Unternehmen aufgebaut. Es gibt heute einige Unternehmen, die sehr groß sind, wie zum Beispiel Apple, aber selbst Apple ist nicht gerade wie ein brandneues Startup. Es hat Jahrzehnte gedauert, sich zu etablieren und zu dem zu werden, was sie sind. Selbst Unternehmen, die fantastisch schnell gewachsen sind, benötigen einen mehr Jahrzehnte dauernden Prozess, um die Reife ihrer supply chain zu erreichen. Es ist also langsam, und wenn man Risiken bewertet – wenn man in Mehrjahreszeiträumen denkt – muss man Dinge betrachten, die aus menschlicher Sicht sehr selten eintreten. Genau deshalb wird die maschinengesteuerte, rechnergestützte Perspektive anstelle reiner Intuition so wichtig. Joannes, können Sie Ihre Gedanken dazu mitteilen?

Joannes Vermorel: Ich glaube, dass Menschen sehr gut darin sind, Dinge im menschlichen Maßstab wahrzunehmen, während supply chains in ihrer Komplexität oft davon abweichen. Es gibt einfach zu viele Faktoren, und was den Zeitraum angeht, denken wir meist an Ereignisse, die einmal oder ein Viertel pro Jahrhundert eintreten könnten. Und doch – wenn Sie eine große supply chain betreiben – ist dies die Art von Risiko, über die Sie nachdenken sollten.

David Simchi-Levi: Lassen Sie mich verdeutlichen, was Joannes betont hat, mit einer zentralen Beobachtung. Unternehmen konzentrieren sich typischerweise auf KPIs. Sie fragen: “Wie ist die Performance meiner supply chain gerade?” Wenn das Serviceniveau niedrig ist, könnte man eine Änderung vornehmen, etwa mehr Inventar hinzuzufügen. Wenn die Transportkosten hoch sind, könnte man Maßnahmen zur Kostensenkung ergreifen. Diese Diskussion über Resilienz, dieser Austausch über den Einsatz von Daten und Analytics, dreht sich auch darum, KPIs mit dem zu ergänzen, was ich KPPs – key performance predictors – nenne. Alles mag in einer supply chain gerade gut aussehen, aber wir möchten vorhersagen, wie der Zustand der supply chain in sechs oder sieben Wochen sein wird. Denn wenn wir das können und ein potenzielles Problem erkennen, können wir das Problem noch heute lösen, bevor es die supply chain in sieben Wochen erreicht.

Und Sie könnten denken: “Hey, ist das möglich?” Tatsächlich hat uns die Pandemie gezeigt, dass wir dies sehr effektiv umsetzen können. Lassen Sie mich das mit einer Geschichte veranschaulichen. Mein Team am MIT Data Science Lab arbeitete schon lange vor der Pandemie an der Resilienz von supply chains. Wir haben eine neue Methode entwickelt, um die Resilienz einer supply chain zu messen und versteckte Risiken zu identifizieren. Wir setzten diese Methode in einer Reihe von Unternehmen ein. Das erste Unternehmen war Ford Motor Company, gefolgt von einigen anderen – aber nur wenigen. Zu Beginn der Pandemie änderte sich dann alles.

Im Februar 2020 – erinnern Sie sich an diesen Zeitraum – traf die Pandemie China. Sie war nicht in Europa, nicht in den USA, sie traf nur China. Ich schrieb ein sehr kurzes Papier, in dem ich das Modell und die Daten verwendete, die mir zur Verfügung standen – das Modell zur supply chain Resilienz –, und in diesem Papier stand, dass wir Mitte März – also sechs Wochen später – eine Unterbrechung von supply chains sowohl in Nordamerika als auch in Europa sehen würden. Und genau das ist passiert. Die Möglichkeit, Daten zu nutzen – und wir haben sowohl Echtzeitdaten aus internen Unternehmensquellen als auch externe Daten –, ermöglicht es Unternehmen, ihre KPIs, key performance indicators, mit KPPs, key performance predictors, zu ergänzen, die den momentanen Zustand der supply chain widerspiegeln.

Nicole Zint: Mit key performance predictor: Wie wird der Zustand meiner supply chain in sechs oder acht Wochen sein, sodass ich noch heute korrigierende Maßnahmen ergreifen kann, bevor das Problem die supply chain erreicht? Deshalb betonte Joannes unter anderem die Bedeutung, Daten und Analytics-Maschinen zu nutzen, um einen großen Einfluss auf die supply chain performance zu erzielen.

Prof. David Simchi-Levi: Mir gefällt diese Unterscheidung zwischen KPI und KPP wirklich gut. Übrigens glaube ich, dass die meisten supply chain Direktoren in den meisten Unternehmen nicht realisieren, dass tatsächlich ein Großteil dessen, was sie KPIs nennen, in gewisser Weise eine Vorhersagekomponente beinhaltet. Wenn Sie beispielsweise sagen, dass Sie KPIs bezüglich der Serviceniveaus haben, beinhalten die meisten dieser Niveaus tatsächlich eine Nachfrageprognose. Wenn Sie angeben, dass Sie dieses Serviceniveau oder diese Menge an Serviceniveau haben, ist die Realität, dass bei den meisten SKUs die Nachfrage sehr spärlich ist. Es gibt kein SKU, bei dem man sagt: “Ich habe ein 90%iges Serviceniveau.” Es ist entweder vorhanden oder nicht. Letztendlich besitzen Sie eine schrittweise Analyse oder ein prädiktives Modell irgendeiner Art, das Ihnen eine Schätzung darüber liefert, wie Ihr Serviceniveau für Ihr SKU aussehen könnte – und auch das ist nur eine Schätzung. Zudem gibt es häufig Situationen, in denen etwa die Menge des verfügbaren Lagerbestands von Faktoren abhängt, deren ETAs nicht vollständig garantiert sind.

Joannes Vermorel: Also, ich finde, dass das Vorhandensein beider Konzepte sehr interessant ist, vor allem, um zu erkennen, wie reale supply chain Systeme, die oft sehr chaotisch sind – bei denen viele interne, aber nicht vollständig verlässliche Daten einfließen, besonders wenn es um die Zukunft geht – in einen grauen Bereich übergehen, in dem die Grenzen verschwimmen. Und viele Menschen haben meiner Meinung nach zunächst das Problem, zu viel Vertrauen darin zu setzen, dass es sich bei vielen Indikatoren um eine neutrale, objektive Beobachtung der Vergangenheit handelt. Das ist es nicht. Außerdem gibt es noch den Aspekt, dass, sobald man sich mit Risiko auseinandersetzt, die naive Ein-Zukunft-Perspektive nicht länger gilt. Man muss bedenken, dass, wenn Sie vorhersagen, dass eine Unterbrechung eintreten wird, Sie – wenn Sie sehr vorsichtig wären – etwas sagen würden wie: “Ich bin zu 80 % zuversichtlich, dass frühestens in acht und spätestens in zwanzig Wochen eine Unterbrechung eintritt”, usw. Grundsätzlich geht es darum, die Tatsache zu akzeptieren, dass, sobald man die Zukunft betrachtet, Dinge wahrscheinlich, aber nicht sicher sind. Und dennoch haben sie einen Wert. Nur weil es ein gewisses Maß an Unsicherheit gibt, heißt das nicht, dass man behaupten muss, es existiere nicht. Eine sehr gute Schätzung zu haben, auch wenn es nur eine Schätzung ist, besitzt bereits einen enormen Wert – und darauf sollte man reagieren, selbst wenn es sich nur um Wahrscheinlichkeiten handelt.

Prof. David Simchi-Levi: Lassen Sie mich, Nicole, – wenn Sie mir erlauben – anhand eines Beispiels aus dem Sport veranschaulichen, warum Unternehmen über KPI und KPP nachdenken müssen. Ich habe nie Hockey gespielt, aber ich mag Hockey. Und wenn man an einen der besten Hockeyspieler Nordamerikas denkt, an Gretzky, sagte er einst: “Ich laufe nicht dorthin, wo der Puck ist; ich laufe dorthin, wo der Puck sein wird.” Genau darum geht es bei KPP.

Nicole Zint: Ich möchte noch heute eine Entscheidung treffen, um anzugehen, wo meine supply chain in sechs oder sieben Wochen sein wird – denn wenn ich das heute tun kann, kann ich Kapazitäten reservieren, meine Kosten senken und effektiv auf eine potenzielle Unterbrechung reagieren, die mein System für die nahe Zukunft voraussagt. Es ist also wirklich interessant, dass wir etwas vorhersagen können – oder zumindest angeblich vorhersagen können –, das in unserer supply chain in sechs, sieben oder acht Wochen passieren könnte. Bei Lokad versuchen wir jedoch, diese Unsicherheit zu akzeptieren: Wir können nicht exakt vorhersagen, was passieren wird, wollen aber im Grunde einen Überblick über die Wahrscheinlichkeit verschiedener möglicher Zukünfte haben. Also, Professor, wenn Sie sagen, dass Sie etwas für in sechs oder sieben Wochen vorhersagen können – wie genau können Sie das wissen? Fokussieren Sie sich dann nur auf ein zukünftiges Szenario, das das Modell ausgibt, oder berücksichtigen Sie vielmehr diese unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten?

Prof. David Simchi-Levi: Wir verwenden eine Kombination von Ansätzen. Es gibt keine Einheitslösung, und lassen Sie mich das hervorheben, da es mit dem zusammenhängt, worauf Joannes und Sie den Fokus legten. Ein Ansatz ist die Szenarioanalyse. Wir generieren mehrere Szenarien; diese können mit einer Änderung der Nachfrage verbunden sein, oder ein Szenario kann mit einer Unterbrechung bei einem bestimmten Lieferanten oder in einer bestimmten Region assoziiert sein. Damit versuchen wir, versteckte Risiken in der supply chain zu identifizieren. Aber unsere Fähigkeit, Szenarien zu erzeugen, hat Grenzen – und um das zu verdeutlichen, denken Sie nur daran, was in den letzten drei Monaten im Vergleich zu vor zwei Jahren passiert ist. Wer hätte vorhersagen können, was wir jetzt in Osteuropa sehen? Die Szenarioanalyse ist also sehr wichtig und ein Teil dessen, was wir tun, aber wir benötigen auch Kriterien und Werkzeuge, die unabhängig von einem bestimmten Szenario sind, zum Beispiel unabhängig von Informationen, die wir von bestimmten Lieferanten erhalten. Solche Werkzeuge existieren weiterhin und stehen Unternehmen heute zur Verfügung. Lassen Sie mich das mit einem Beispiel verdeutlichen: Ich habe einige Konzepte zur supply chain Resilienz entwickelt – eines davon ist Time to Recover und Performance Impact; diese sind alle szenariobasiert. Aber ich habe auch Time to Survive entwickelt. Was ist Time to Survive? Time to Survive ist völlig unabhängig von einem Szenario. Sie betrachten Ihre gesamte supply chain von Ende zu Ende, Sie haben ein Mapping der supply chain, Sie wissen, wo sich Ihr Inventar befindet und wie viel davon vorhanden ist, und dann entfernen Sie eine Einrichtung aus der supply chain und fragen: Ohne diese Einrichtung, wie lange kann ich Angebot und Nachfrage aufrechterhalten? Das ist nicht szenariobasiert, oder? Es gilt die gegebene Störung, und ich kann Ihnen sagen, wie lange ich die Versorgung managen kann. Das ermöglicht es mir, Risiken in der supply chain zu identifizieren, aber auch Kosteneinsparungspotenziale aufzuzeigen. Als wir dies in mehreren Unternehmen implementierten, stellten wir fest, dass Unternehmen manchmal sehr viel Inventar am falschen Standort für ihr eigenes Produkt lagern. Das erlaubt es, versteckte Risiken zu identifizieren und Einsparungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Es ist also nicht ein einziger Ansatz, der uns ein gutes Verständnis der Resilienz von supply chains vermittelt – es sind mehrere Ansätze.

Nicole Zint: Das letzte Element, das ich hinzufügen möchte, ist, dass wir uns stark darauf konzentrieren, Maschinen, Machine Learning und Optimierung zu nutzen, um bessere Entscheidungen zu treffen. Aber niemand wird einer Empfehlung einer Maschine folgen, wenn die Maschine sich nicht selbst erklären kann. Daher brauchen wir neben der Fähigkeit, eine Prognose oder eine empfohlene Entscheidung zu generieren, auch eine Erklärung, warum diese Prognose zeigt, dass die Nachfrage für Produkt A im Mittleren Westen signifikant steigen wird, während sie an der Westküste nicht erfolgreich sein wird. Die Erklärbarkeit dessen, was die Maschine ausgibt, ist ein wesentlicher Bestandteil dieses Entscheidungsprozesses.

Joannes Vermorel: Auf Ihre Kommentare zur Notwendigkeit der Erklärbarkeit der Modelle springend, ist meine beiläufige Beobachtung, dass numerische Modelle – selbst halbbanale wie die lineare Regression mit ein paar Koeffizienten – von Natur aus sehr undurchsichtig sind. Das ist quasi vorausgesetzt, sobald man mit Zahlen arbeitet. Computer sind so viel besser im Rechnen als Menschen, dass es nicht vieler Zahlen bedarf, um etwas zu erzeugen, das für den durchschnittlichen, nicht-genialen menschlichen Beobachter völlig undurchsichtig ist.

Und die typische Vorgehensweise ist, dass eine Zahl, die im Hinblick auf eine Erklärung Sinn macht, unglaublich kontextabhängig ist. Es ist sehr verlockend, einfach eine Metrik-Wand mit Millionen von Zahlen zu produzieren, die man durch Projektion seiner Daten in alle erdenklichen Richtungen ableiten kann. Mit modernen Computern ist das ganz einfach zu bewerkstelligen – aber Ihre supply chain Planner haben nur eine begrenzte Zeit dafür.

Daher arbeitet Lokad an einem Prozess, bei dem es auf algorithmischer Ebene relativ einfach sein wird für das, was wir den Supply Chain Scientist nennen (was einem Datenwissenschaftler, der sich auf supply chain spezialisiert hat, ähnelt), sowohl die prädiktive Optimierungslogik als auch die erklärenden Faktoren zu entwickeln. Aber es gibt einen Haken: Ich erwarte nicht, dass die KI oder irgendein ausgefallenes Machine-Learning-Rezept diese Arbeit leisten kann. Ich verfolge vielmehr einen paradigmenorientierten Ansatz, bei dem ich sage, dass ich Klassen von Algorithmen habe, bei denen ich weiß, dass ein Supply Chain Scientist, mit seiner sehr menschlichen Intelligenz, den Extraschritt machen kann, um das zu tun, was wir als white boxing bezeichnen.

Dies ermöglicht es ihnen, Kennzahlen zu entwickeln, die für das Supply Chain Management im Allgemeinen Sinn ergeben, damit sie verstehen, was vor sich geht. Aber es kommt ein sehr menschlicher Aspekt ins Spiel, nämlich dass jemand im Wesentlichen die Zahlen erstellt, sodass man einige KPIs auswählen kann. Ihre Zahlen, nicht nur KPIs, können gemäß Ihrer Definition TPP sein, aber sie werden sehr sorgfältig ausgewählt. Der einzige Trick besteht darin, eine algorithmische Methode zu haben, die sich sehr gut für diese Art der tiefgehenden Zerlegung dessen eignet, was vor sich geht.

Prof. David Simchi-Levi: Richtig, und ich kann hervorheben, warum das so wichtig ist, anhand eines Beispiels zur Implementierung dessen, was ich eine unified view nenne.

Nicole Zint: Bei der Nachfrage in einem sehr großen CPG, wenn Sie dies implementieren, beginnen typischerweise Anrufe zu kommen, in der Regel von der Finanzabteilung. Die Anrufe lassen sich in drei Typen einteilen. Der erste ist: “Hey, Datenwissenschaftler, hey, Tim, wir verstehen nicht, warum euer Fokus darauf hindeutet, dass dieses Produkt oder diese Familie in einer Region unglaublich gut wachsen wird, aber in einer anderen Region nicht erfolgreich ist”, oder? Das ist ein Teil der Erklärbarkeit.

David Simchi-Levi: Der zweite Fall ist noch herausfordernder. Man erhält einen weiteren Anruf, und die Finanzleute sagen: “Wir verstehen es nicht, du hast uns gerade eine Prognose gegeben, weil wir jede Woche für die nächsten 80 Wochen eine Prognose abgeben. Die Prognose, die du uns heute gegeben hast, unterscheidet sich von der Prognose, die du uns vor vier Wochen gegeben hast. Was ist los? Die Welt hat sich nicht verändert.”

David Simchi-Levi: Der dritte Fall lautet: “Hey, vor einem Monat hast du uns eine Prognose zur heutigen Nachfrage gegeben, aber sie ist ganz anders.” Wenn wir diese drei Herausforderungen nicht bewältigen können, wird niemand einer black box vertrauen, die Woche für Woche für jedes Produkt Prognosen ausspuckt. Deshalb ist es so wichtig zu erkennen, dass das, was du in deinem Unternehmen tust, was mein Team am MIT Data Science Lab macht, nicht nur Wissenschaft ist. Um effektiv zu sein, erfordert es die Kombination von Wissenschaft und Kunst. Wissenschaft ist die Maschine und die Daten in der Analytik; Kunst ist die Einsicht, die Intuition, die Erfahrung, die Menschen, in diesem Fall in supply chain, haben. Es ist eine Kombination aus beidem. Aber wenn wir nicht mit der Maschine sprechen können, um zu verstehen, was sie sagt, wird es für Menschen schwierig sein, den Empfehlungen der Maschine zu folgen.

Nicole Zint: Also, Professor, bevor ich zu den Hauptfragen komme, welche aufkommenden Paradigmen wir haben, möchte ich Sie nur fragen: Sie haben in Ihrem Kurs auch diese “laws of physics” erwähnt, wissen Sie, anwendbar auf supply chain Praktiker und Unternehmen. Aber was meinen Sie mit “laws of physics” aus der Perspektive der supply chain?

David Simchi-Levi: Für mich sind “laws of physics” allgemeine Beziehungen zwischen Information, Kapazität, Servicelevel und Bestandsbeziehungen, die immer gelten, unabhängig davon, ob man eine regionale supply chain oder eine globale supply chain hat, und unabhängig davon, ob man sich auf High-Tech, CPG oder Pharmazeutisches konzentriert.

Nicole Zint: Können Sie ein Beispiel für eine dieser Beziehungen geben, die Sie gerade erwähnt haben?

David Simchi-Levi: Eine Beziehung zwischen Bestand, Sicherheitsbestand, Servicelevel und Variabilität. Wir wissen, wie man die Beziehung zwischen den dreien quantifiziert: Sicherheitsbestand beziehungsweise Bestand, Variabilität und Servicelevel. Sobald man die Beziehung zwischen den dreien versteht, erkennt man, wie man seine supply chain besser steuern kann.

David Simchi-Levi: Ein weiteres Beispiel ist die Beziehung zwischen dem Informationsniveau und der Volatilität, die in der supply chain auftreten wird. Sobald man das versteht, kann man erkennen, wie sehr Sichtbarkeit und Informationsaustausch es uns ermöglichen, die Volatilität zu reduzieren. Und wie steht es um die Beziehung zwischen Volatilität und verlorenen Verkäufen? Sobald Sie das verstehen, erkennen Sie: “Oh, ich muss reduzieren…”

Nicole Zint: Wie kann ich die Volatilität managen, um meinen Servicelevel zu erhöhen und meine verlorenen Verkäufe zu reduzieren?

Prof. David Simchi-Levi: Ein Weg, die Volatilität zu reduzieren, ist der Informationsaustausch. In meinem Buch, dessen vierte Auflage im September letzten Jahres erschienen ist, bespreche ich etwa 40 bis 50 Arten von “laws of physics”, die es Unternehmen ermöglichen, Chancen in ihrem Geschäft zu identifizieren. Das sind globale Beziehungen, und deshalb nenne ich sie laws of physics.

Denken Sie an das, was wir in der Schule oder im Physikunterricht am College gelernt haben. Die Idee ist, dass es einige grundlegende Beziehungen im Geschäft gibt, die eine Art quantitative Messgröße verschiedener Teile definieren. Man hat Situationen, in denen man Gleichungen aufstellen kann, die immer wahr sind, wie zum Beispiel die vier Maxwell-Gleichungen in der Physik – ständig. Es hängt nicht von einer bestimmten Situation ab.

Joannes Vermorel: Also, im Wesentlichen geht es in supply chains nicht ausschließlich um Poesie. Es gibt diese grundlegenden Beziehungen im Geschäft, die eine Art quantitative Messung verschiedener Teile definieren. Zum Beispiel weise ich in meiner Vortragsserie darauf hin, dass fast jede Verteilung, die in der supply chain beobachtet wird, einem Zipf’schen Gesetz folgt. Von den Produkten mit dem höchsten Volumen bis hin zum Long Tail trifft das Zipf’sche Gesetz zu. Dasselbe gilt für Lieferanten, von den größten bis zu den kleinsten – auch hier gilt ein Zipf’sches Gesetz, und so weiter.

Diese Theorie kann wissenschaftlich hinterfragt werden, etwa indem man in Frage stellt, ob sie die beste Theorie ist, um die Welt zu erklären, oder ob es Situationen gibt, die der allgemeinen Theorie widersprechen. Allerdings steht sie nicht zur Debatte, insofern als man einfach entscheiden könnte, ihr aufgrund der spezifischen Branche nicht zu glauben.

Das Interessante ist, dass, wenn man diese mathematischen Grundlagen für Klassen von Phänomenen hat, es unglaublich mächtig ist, um Werkzeuge, Algorithmen und Frameworks zu entwickeln. Bei Lokad nutzen wir dies intensiv. Zum Beispiel hat die Zipf-Verteilung zur Folge, dass man supply chain Daten enorm komprimieren kann, da die Mehrzahl Ihrer Zeilen garantiert entweder Nullen oder Einsen sind, was sie komprimierbar macht.

Ein weiteres Beispiel ist, dass man tatsächlich den quicksort Algorithmus beim Sortieren übertreffen kann. Man kann schneller sein als das theoretische Optimum, allein aufgrund der geringen Kardinalität dessen, was man zu lösen hat. Es gibt viele Dinge, die in Bezug auf Softwaredesign und auch das Design der auf diesen mathematischen Grundlagen basierenden supply chain Theorien wichtig sind.

Nicole Zint: Wir sind also heute hier mit Joannes Vermorel und Professor David Simchi-Levi, um über supply chain Optimierung zu sprechen. Joannes, Sie sprechen oft über die Bedeutung von Flexibilität in supply chains. Können Sie das ein wenig näher erläutern?

Joannes Vermorel: Das veranschaulicht es, wenn Sie mir erlauben. Jeder versteht die Konzepte, die Idee der Flexibilität. Jeder weiß, dass mehr Flexibilität besser ist als weniger, aber Flexibilität kommt nicht umsonst. Wie viel Flexibilität brauche ich? Wo sollte ich in Flexibilität investieren, und was sind die potenziellen Vorteile von Flexibilität? Das sind entscheidende Fragen, die beantwortet werden müssen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie definiere ich Flexibilität? Sobald man eine präzise Definition von Flexibilität hat – zum Beispiel die Fähigkeit, auf Veränderungen zu reagieren, und Veränderungen können auf viele verschiedene Arten eintreten, wie sich ändernde Nachfragemengen, Nachfragezusammensetzung, Störungen – weiß man genau, wie man eine supply chain für Flexibilität gestaltet. Diese Grundlagen stammen aus der low physics, und sobald man das weiß, kann man quantifizieren, welchen Einfluss das auf meinen Servicelevel, meinen Bestand und meine Reaktionszeit hat. Und das wird von Unternehmen in der Automobilindustrie und in der Konsumgüterindustrie genutzt, die mithilfe von laws of physics das Ausmaß, das Niveau der Flexibilität in der supply chain neu überdenken. Dasselbe gilt für Redundanz, ebenso für Resilienz. Deshalb sind die laws of physics so wichtig.

Nicole Zint: Es ist ziemlich interessant, dass Sie Flexibilität erwähnten, denn wir sehen oft, dass, wenn Unternehmen Entscheidungen darüber treffen müssen, ob sie ein bestimmtes Produkt in ihrem zentralen warehouse oder in mehr lokalen Lagern behalten, im Grunde dieses Gleichgewicht oder dieser Kompromiss besteht – entweder ist man flexibler, wenn es im zentralen DC ist, oder man bietet seinen Kunden einen besseren Service, weil sie das Produkt schneller erhalten.

David Simchi-Levi: Also ja, es geht darum, dieses perfekte Gleichgewicht zu finden. Aber ich denke, der Punkt, den Joannes ausdrücklich macht, ist, dass es nicht nur darum geht, das Gleichgewicht zu finden – das Gleichgewicht ist gewissermaßen selbstverständlich. Was er aufzeigt, ist, dass es einen wirtschaftlichen Zielkonflikt gibt, der bei Flexibilität immer vorhanden ist, und dass dieser modelliert werden kann und zur Optimierung in allen Situationen herangezogen wird. Sehen Sie, das ist, was er sagt – ich glaube, das ist so etwas wie der Spitzname für das law of physics. Das ist das Gesetz der, würde ich sagen, physical supply chains. Sie wissen, das ist sozusagen die Kurzform dafür. Es gibt Grundlagen, die etabliert werden können – sie sind nicht von Natur aus vollständig, sie sind nicht von Natur aus endgültig, aber sie existieren. Und es ist wichtig, diese supply chains in diesem Fall mit einer Denkweise anzugehen, bei der nicht alles, würde ich sagen, zur Debatte steht. Sehen Sie, das ist der Punkt bei diesem physikbasierten Ansatz. Wenn die Leute sagen, wir haben die Gleichungen für den Elektromagnetismus – wir haben im Wesentlichen die vier Maxwell-Gleichungen –, dann kann man versuchen, diese zu widerlegen, aber dennoch praktiziert jeder Elektromagnetismus und sagt, dass dies für ihn immer als wahr gilt. Das ist keine Option. Die Leute behaupten nicht, dass es von Natur aus unmöglich sei, eine Situation zu finden, in der sie falsch liegen würden. Das ist keine Wissenschaft. Es geht darum, den Fluss in Ihrem Modell zu entdecken, und wir finden noch mehr. Aber der Punkt ist, dass ich es sehr interessant finde, ein Kernstück zu etablieren.

Nicole Zint: Also, Joannes, könnten Sie uns etwas über die Theorien erzählen, auf die Sie sich stützen, um einen quantitativen Ansatz zu entwickeln, der bei der supply chain Optimierung funktioniert?

Joannes Vermorel: Es gibt zwei Theorien im wissenschaftlichen Sinne, auf die man sich stützen kann, um darauf aufzubauen. Man weiß schon, im Gegensatz dazu, nur Meinungen und Debatten zu haben. Denn das Problem ist, dass es sehr schwierig wird, einen quantitativen Ansatz zu verfolgen, der nicht zufällig ist, wenn man diese Grundlage nicht hat. Man möchte eine Methode haben, die das Potenzial hat, in allen Unternehmen stets zu funktionieren. Das ist der Gipfel der Allgemeingültigkeit. Aber wenn man sehr solide Grundlagen hat, kann man Dinge erreichen, die diesem Ideal immer näher kommen. Ich denke, da liegt das wahre Interesse.

Nicole Zint: Es ist also interessant, dass Sie sagen, dass es darum geht, diese Lösung zu finden, die für viele verschiedene Probleme funktioniert, nicht nur für ein einzelnes. Und tatsächlich, Professor, das haben wir auch in Ihren Publikationen gesehen. Dass Sie oft nicht nur über einen einzelnen Algorithmus oder eine einzelne Lösung sprechen, sondern vielmehr über ein Framework, das auf ganz unterschiedliche Probleme anwendbar ist. Warum haben Sie sich dafür entschieden, sich darauf zu konzentrieren, anstatt einfach einzelne Module zu verteilen?

Prof. David Simchi-Levi: Nun, es ist wahrscheinlich sehr offensichtlich, aber gleichzeitig stellen wir fest, dass sich nicht sehr oft jemand auf das Framework konzentriert. Es wird immer nur diese eine Lösung gesucht. Aber wenn sich die supply chain verändert – und wie Sie erwähnt haben, wenn sich die Welt ständig verändert – dann sitzen wir fest. Also müssen wir das Problem immer wieder von neuem angehen. Und tatsächlich konzentrieren wir uns bei Lokad genau darauf: Auf die Findung eines Problemlösungsansatzes, anstatt nur auf eine einzelne Lösung, die nur momentan anwendbar ist.

Nicole Zint: Professor, könnten Sie auch die Frage beantworten, warum Sie sich auf Frameworks konzentrieren?

Prof. David Simchi-Levi: In Ihrer Beschreibung des Schwerpunkts meiner Forschung liegt ein großer Fokus darauf, sicherzustellen, dass wir eine langfristige Strategie für die supply chain haben. So müssen wir unsere Strategie nicht jede Woche oder jeden Tag aufgrund einer aktuellen Störung oder einer Veränderung der Nachfrage ändern. Und vielleicht möchte ich das mit der Arbeit, die ich zur supply chain Digitalisierung geleistet habe, hervorheben. Was sind die Frameworks, die wir in der supply chain Digitalisierung identifiziert haben, die es Unternehmen ermöglichen, den Großteil der Vorteile einer vollständigen Digitalisierung zu erreichen, ohne in einen vier- oder fünffachen Investitionsaufwand in die digitale supply chain zu gehen? Ich werde vier Frameworks hervorheben. Das erste, das ich bereits erwähnt habe, ist die unified view of demand, die die consensus forecast ersetzt. Konsensprognosen wurden von Führungskräften und in der Industrie bereits seit vielen, vielen Jahren verwendet. Die Finanzabteilung erstellt ihre eigene Prognose. Der Betrieb hat seine eigene Prognose. Der Vertrieb hat eine andere Prognose. Und dann setzen sie sich in einem Konsensmeeting zusammen, um einen Kompromiss zu vereinbaren – ohne dass klar ist, ob dieser Kompromiss die Realität korrekt widerspiegelt. Was man tun möchte, ist, sich auf die Daten zu einigen. Sobald ich die Daten habe, möchte ich, dass die Analytik und die Maschine eine Prognose generieren, die von den verschiedenen Funktionsbereichen genutzt werden kann. Das ist das erste. Das Zweite ist ein…

Nicole Zint: Könnten Sie uns etwas über das Framework erzählen, das Sie in der supply chain Optimierung verwenden?

Prof. David Simchi-Levi: Natürlich, das Framework, das wir verwenden, basiert auf der Idee, dass eine Einheitsstrategie für die meisten Unternehmen nicht geeignet ist. Wenn man betrachtet, was die meisten Unternehmen tun, verfolgen sie eine Strategie über alle Kanäle, alle Märkte und alle Produkte hinweg. Was wir betonen, ist die supply chain-Segmentierung, also die Segmentierung von Produkten, Märkten und Kanälen. Das ermöglicht es den Unternehmen, die supply chain-Strategie für jeden Cluster, jede Gruppe fein abzustimmen und als Ergebnis flexibler zu reagieren, je nach den Eigenschaften jedes Segments. Das dritte Element in diesem Framework ist die Fokussierung auf SNOP (Sales and Operations Planning), das Daten und Analysen einsetzt, um den Unternehmen zu helfen, einen effektiven Plan zu identifizieren. Das Letzte ist die Erkenntnis, dass – so effektiv der Plan auch ist – es immer Abweichungen vom Plan gibt, wie etwa Versorgungsunterbrechungen und Nachfrageänderungen. Wenn ich diese Störungen und Abweichungen frühzeitig erkennen kann, kann ich sehr effektiv darauf reagieren. Dies ist Teil der KPP (Key Performance Parameters) und des Control Towers, auf den sich Ihr Unternehmen sicherlich mit vielen seiner Kunden konzentriert.

Nicole Zint: Joannes, was hältst du von dem, was Professor Simchi-Levi sagt, besonders in Bezug auf diesen SNOP-Prozess, den auch Lokad hat?

Joannes Vermorel: Ja, ähm, aber ich würde sagen, es ist kein anderer Ansatz. Aufgrund unseres Fokus und Ursprungs betrachten wir das Thema aus einem etwas anderen Blickwinkel. Das bedeutet nicht, dass wir grundsätzlich uneinig sind. Das Erste, was mir auffällt, ist, dass wir die supply chain nie direkt beobachten – wenn wir also zum Beispiel von Nachfrage sprechen, erfolgt dies über die Zwischenschaltung von Enterprise-Systemen, die sehr komplex sein können. Ein typisches ERP, das drei Jahrzehnte alt ist, verfügt über rund 2000 Tabellen. Jede Tabelle enthält etwa 50 bis 200 Felder, und wenn man von einem multinationalen Unternehmen spricht, könnte es in einer fast albtraumhaften Situation enden, in der es in jedem Land ein unterschiedliches ERP gibt – also in 40 Ländern. Daher ist das Eingangssignal zunächst in Bezug auf reine IT-Komplexität unglaublich komplex und keineswegs zu unterschätzen. Es gibt also zuerst diese, würde ich sagen, Barriere, dass selbst wenn alle Systeme vorhanden sind und die Daten korrekt – sprich: sehr saubere transaktionale Daten – vorliegen, das Problem darin besteht, dass sie extrem komplex sind, weil die Systeme nie zur Messung der Nachfrage, sondern zur Steuerung der supply chains eingerichtet wurden. Somit haben wir zunächst diese, würde ich sagen, brutale Intransparenz der Anwendungslandschaft. Das Zweite, was wir beobachten, ist, dass das, was wir Nachfrage nennen, bei genauerer Betrachtung der tatsächlichen Branchen wesentlich feiner granular ist. Nehmen wir zum Beispiel ein Unternehmen, das Elektromaterial an B2B-Kunden verkauft. Die Realität ist, dass die Bestellung, die sie erhalten, darin besteht, dass ein Kunde ein Gebäude errichten möchte und folglich eine Großbestellung mit potenziell Tausenden von Produktreferenzen aufgibt, wobei die Lieferung tatsächlich terminiert wird. Man würde also sagen: “Wir möchten, dass in neun Monaten alles geliefert wird, aber die ersten 500 Referenzen sollen in drei Monaten geliefert werden, dann die nächsten 500 in vier Monaten usw.”

Nicole Zint: Joannes, könntest du uns erklären, wie du das Thema Nachfrageprognose angehst und welche Herausforderungen damit verbunden sind?

Joannes Vermorel: Ja, die Granularität der Nachfrage kann ziemlich kompliziert sein. Zum Beispiel, wenn man eine Großbestellung hat, die über einen Zeitraum von sechs Monaten terminierte Lieferungen erfordert, wie zählt man dann die Nachfrage? Zählt man sie, wenn sie entsteht, oder wenn sie geliefert wird? Offensichtlich gibt es zahlreiche Komplexitäten. Was ich sagen möchte, ist, dass, wenn wir von “Nachfrage” sprechen, dies kein eindimensionales Problem mit einer time-series Perspektive ist, bei der man einfach projizieren kann. Üblicherweise handelt es sich um ein sehr multidimensionales Problem, das zusätzlich dadurch erschwert wird, dass, wenn man einen eigenen neuen Produkttyp einführt, der die alte Produktgeneration ersetzt, sehr aggressive Kannibalisierungseffekte auftreten – schlicht, weil es buchstäblich die eigene überlegene Technik ist, die die vorherige Technologie der Produkte kannibalisiert. Die Produkte liegen somit in der Regel sehr dicht beieinander, und die nächste Generation ist in jeder Hinsicht ein besserer Allround-Ersatz für alles, was davor war.

David Simchi-Levi: Ja, und deshalb ist es entscheidend, die richtigen Werkzeuge und einen gut ausgebildeten Supply Chain Scientist zu haben, um diese Herausforderung zu meistern. SQL ist eine Programmiersprache, die zur Datenextraktion verwendet wird, aber wir brauchen bessere Werkzeuge, um die gewaltige Datenmenge, mit der wir umgehen müssen, zu verstehen.

Joannes Vermorel: Genau. Bei Lokad liegt unser Fokus darauf, darüber nachzudenken, welche Art von Werkzeugen unsere supply chain scientists benötigen. Wir haben keine KI, die einfach Daten übernimmt und uns Nachfrageprognosen liefert. Wir brauchen menschliche Intelligenz, um die Daten zu interpretieren. Eine Frage, die wir uns stellen, ist: Über welche Werkzeuge verfügen sie? Haben sie SQL oder noch Besseres?

Nicole Zint: Und was ist mit dem Plan? Wie gehst du da vor?

Joannes Vermorel: Nun, Lokad ist ein sehr operatives Unternehmen, und wir konzentrieren uns auf die tägliche Ausführung der supply chains. Was wir heutzutage tun, ist, den Plan vollständig verschwinden zu lassen. Es gibt keine Pläne und keine Prognosen mehr. Oder zumindest existieren diese Dinge noch als numerische Artefakte, sind aber völlig vergänglich und in die Datenpipeline des Systems eingebettet. Die einzigen sichtbaren Effekte sind die finalen Entscheidungen. Zum Beispiel: Was kaufst du? Was produzierst du? Wohin verlegst du den Bestand? Senkst oder erhöhst du den Preis? Wenn also eine Störung aus China kommt, ist das ein Input, aber die Tatsache, dass sie den Plan ändert, ist unerheblich. Das Einzige, was die Menschen sehen, sind Entscheidungen, die in etwas leicht Abweichendes gelenkt werden. Und wenn sie sich die treibenden Kräfte in Dollar oder Euro anschauen, werden sie feststellen, dass die in Dollar ausgedrückten Risiken für bestimmte Risikoklassen aufgrund dieser neuen Information in die Höhe geschnellt sind.

Nicole Zint: Joannes, was hältst du von den Auswirkungen von Störungen auf die supply chain?

Joannes Vermorel: Nun, Störungen in der supply chain können ernsthafte Risiken für Offshore-Lieferanten verursachen. Sie können deren zugehöriges Risiko explodieren lassen und alle Entscheidungen von ihnen weglenken. Für die meisten Unternehmen werden Prognose und Plan zu einem numerischen Artefakt, das ziemlich unerheblich ist. Ich meine, es gibt viele andere numerische Artefakte, die keine First-Class-Bürger sind und das Interesse des Unternehmens nicht wecken. Wahrscheinlich muss ich noch mehr darüber erfahren, was ihr macht, um einen fundierteren Kommentar zu dem, was du beschrieben hast, abgeben zu können.

Prof. David Simchi-Levi: Unternehmen, mit denen ich zusammengearbeitet habe, stehen in verschiedenen Teilen der supply chain vor Herausforderungen, die unterschiedliche Ansätze in der Planung und Prognose erfordern. Lassen Sie mich ein sehr kurzes Beispiel geben: Wenn man an den Modeeinzelhandel denkt, gibt es einen Teil des Portfolios, den ich unter keinen Umständen vorhersagen kann. Wir können zwar eine Prognose erstellen, aber sie ist so unzuverlässig, dass die supply chain sich ausschließlich auf Geschwindigkeit konzentriert. Aber es gibt andere Teile ihres Portfolios, bei denen ich sehr gut vorhersagen kann, und diese Vorhersagen dienen dazu, die supply chain vollständig zu steuern. Es mag sein, dass viele der supply chain-Manager die Vorhersage nicht sehen, aber sie wird genutzt, um zu bestimmen, wo ich das Inventar positioniere, wie hoch die Lagerbestände sind und wie ich auf Bestellungen reagiere. Im ersten Teil hingegen ist nicht nur die Vorhersage verborgen, es existiert gar keine, weil sie so unzuverlässig ist und die supply chain sich vorwiegend auf Geschwindigkeit konzentriert. In diesem Teil denke ich, dass dein Punkt ein wenig anders, ein wenig tiefer geht – nämlich dass selbst wenn es Vorhersagen und einen Plan gibt, dem Entscheidungsträger lediglich das Ergebnis eines spezifischen Ereignisses demonstriert wird, anstatt dessen, was zu diesem Ergebnis beiträgt – also sei es die Vorhersage oder der Plan. Ein wichtiger Aspekt ist, ob sich ein menschlicher Entscheidungsträger damit wohlfühlen wird, nur das Ergebnis zu betrachten, ohne zu verstehen, was es antreibt, sei es der Plan selbst oder die Vorhersage. Aber ich benötige sicherlich noch ein wenig mehr Einblick in eure Tätigkeiten, um die potenzielle Chance in diesem Bereich erkennen zu können.

Nicole Zint: David, welche aufkommenden Algorithmen siehst du derzeit im Bereich supply chain Learning und Optimierung, und welche negativen Trends gewinnen deiner Meinung nach ebenfalls an Popularität?

Prof. David Simchi-Levi: Ich denke, lassen Sie mich mit dem zweiten Teil beginnen, nämlich dem Trend um die negativen Tendenzen. Der negative Trend hinsichtlich der Auswirkungen von Störungen und Volatilität, den wir auf dem Markt beobachten, wird uns noch viele Jahre begleiten. Dies ist die neue Normalität, und infolgedessen müssen Unternehmen ihre Vorgehensweise überdenken…

Nicole Zint: Joannes, du hast über einige negative Trends gesprochen, die Auswirkungen auf Kunden haben. Könntest du das näher erläutern?

Joannes Vermorel: Ja, natürlich. Aus meiner Perspektive gibt es zwei Probleme, die Kunden betreffen. Das erste Problem ist, dass moderne Unternehmenssoftware unglaublich vielschichtig ist. Es gibt Schicht auf Schicht auf Schicht, und Daten fließen von Schicht zu Schicht. Bei modernen Systemen sprechen wir leicht von über 100 Schichten, durch die die Daten fließen. Data Science fügt nur etwa über 20 Schichten hinzu. Um es dir zu verdeutlichen: Wenn du sagst, du möchtest Data Science in Python betreiben, dann ist die Realität, dass du nicht alles in Python machst. Es gibt Schichten, die in Pandas erstellt werden, Schichten, die in NumPy ablaufen, Schichten, die innerhalb von Kit ausgeführt werden, und so weiter. Viele Unternehmen kämpfen enorm damit, dass sich in den letzten Jahrzehnten die Systeme so vielschichtig entwickelt haben, dass jede Schicht eine Gelegenheit für Fehler, Regressionen und allerlei Pannen darstellt. Dies behindert alle supply chain initiatives auf eine sehr brutale und einfache Weise. Sie versuchen, etwas zu bewirken, und am Ende des Tages können sie nicht einmal den Lagerbestand korrekt ermitteln, nur weil die KI durch über 50 Systeme fließt, und es ist sehr kompliziert.

Prof. David Simchi-Levi: Kann ich dem etwas hinzufügen? Die Implikation dessen, was Joannes sagt, ist, dass die Qualität dessen, was die Menschen tun, beeinträchtigt wird.

Joannes Vermorel: Ja, das ist korrekt. Das zweite Problem, das ich sehe, ist, dass einige Verfahren des maschinellen Lernens, wie zum Beispiel deep learning, unglaublich technisch sind und ihre eigenen Schichtenstapel hinzufügen. Das macht die Umsetzung sehr schwierig. Sicherlich schaffen es sehr große Unternehmen, aber es ist wirklich, wirklich schwierig. Daher sehe ich neue Klassen algorithmischer Paradigmen, die es uns ermöglichen, ganze Schichtenklassen zu entfernen, indem wir beispielsweise Lernen, Optimierung und die Datenbankebene zu einer Einheit zusammenführen. Man entfernt einfach ganze Schichtenklassen, sodass, was auch immer man im Hinblick auf supply chain tun möchte, man tatsächlich in der Lage ist, es in großem Maßstab mit IT-Systemen umzusetzen, ohne zu viel Chaos einzuführen. Die Realität ist, dass – wenn ich darauf zurückkomme, warum Unternehmen oft so viele Jahre benötigen, um ihre Aufgaben zu erfüllen – es nicht nur der ausgefallene Teil des maschinellen Lernens ist, der so viel Zeit erfordert, oder der hochintelligente algorithmische Teil des Systems, der so viel Zeit und Aufwand in Anspruch nimmt. Es ist alles, was davor und alles, was danach kommt, was nur sehr lose integriert ist, und man landet am Ende bei…

Nicole Zint: Entschuldigung für die Unterbrechung, aber könntest du erläutern, was du mit “alles, was davor und danach kommt” meinst?

Joannes Vermorel: Ja, sicher. Vor dem ausgefeilten Teil des maschinellen Lernens benötigt man ordnungsgemäße Datenpipelines, passende Datenbanken und sorgfältige Datenbereinigung. Nach dem maschinellen Lernen braucht man geeignete Wege, um die Ergebnisse dieses Prozesses in das ERP-System oder in das Order-Management-System oder in das WMS-System zu integrieren. All diese Komponenten müssen gut integriert sein, und genau darin liegt die Herausforderung.

Nicole Zint: Also, Joannes, kannst du uns etwas über die Komplexität der supply chain optimization in Bezug auf Daten erzählen?

Joannes Vermorel: Ich würde sagen, die Datenpipelines sind extrem komplex. Die Komplexität der Logistik der Daten übertrifft tatsächlich die Komplexität der Logistik der physischen Güter. Das entspricht der altmodischen Sichtweise eines Softwareanbieters. Aber aktuell ist meine Beobachtung, dass Unternehmen, die sich verstärkt auf Dinge konzentrieren, dazu neigen, dass die IT-Komplexität in die Höhe schnellt. Das kann eine Angstreaktion auf die dramatischen Ereignisse der letzten zwei Jahre sein. Aber das wird eure supply chain nicht widerstandsfähiger machen, wenn man am Ende eine weitere Risikoklasse durch super komplizierte Pannen einführt. Heutzutage sehe ich immer mehr Unternehmen, die aufgrund eines IT-Problems – sei es Ransomware oder einfach interne Bugs – zum Stillstand kommen.

Nicole Zint: Und Professor Simchi-Levi, wie denken Sie, kann Technologie genutzt werden, um die supply chain optimization zu verbessern?

Prof. David Simchi-Levi: Wenn wir vor der Pandemie über die Chancen gesprochen hätten, Technologie, maschinelles Lernen und Optimierung zur Verbesserung der Geschäftsleistung und der supply chain einzusetzen, würden die Leute zustimmen. Aber Führungskräfte wären nur ungern bereit, in die Digitalisierung der supply chain – in die Digitalisierung der inter supply chain – zu investieren. Nicht weil sie den Nutzen nicht sehen – sie verstehen den Nutzen –, sondern weil sie sich vor der enormen finanziellen Investition und der langen Zeit, die nötig ist, um den angestrebten Nutzen zu erreichen, fürchten. Was uns die Pandemie gezeigt hat, ist, dass die Zukunft bereits da ist, und dass wir heute mit den verfügbaren Daten agiler und widerstandsfähiger in unseren supply chains sein können.

Joannes Vermorel: Wenn wir mehr erreichen wollen, insbesondere wenn wir intelligent mit komplexen Konzepten wie Resilienz und Risikomanagement umgehen wollen, die sich nicht direkt messen lassen, brauchen wir Werkzeuge, die dazu in der Lage sind. Aber wir sollten nichts entwickeln, das tatsächlich in relativ kurzer Zeit implementiert und in Produktion genommen werden kann – und das ist wirklich eine Herausforderung. Die Frage ist, dass momentan das universelle Werkzeug, mit dem man innerhalb von 48 Stunden eine Entscheidung in Produktion bringt, Microsoft Excel ist. Und wenn wir buchstäblich etwas hätten, das alle Eigenschaften besitzt, die man sich in Excel wünscht – ein Entscheidungswerkzeug, mit dem man eine mehrmilliardenschwere supply chain steuern und die Entscheidung treffen kann, die jetzt getroffen werden muss, mit von Grund auf überlegener Korrektheit – dann wäre das ein Ansatz, es zu betrachten. Das ist definitiv die Art von Forschungsausrichtung, der wir nachgehen.

Nicole Zint: Professor Simchi-Levi, können Sie zu dem, was Joannes gerade gesagt hat, Stellung nehmen?

Prof. David Simchi-Levi: Lassen Sie mich auf dem aufbauen, was Joannes gesagt hat, und es mit den heutigen supply chain Herausforderungen und IT-Herausforderungen verknüpfen.

Nicole Zint: Also, Joannes, wie wichtig ist Ihrer Meinung nach die supply chain Digitalisierung, und wie kann sie Unternehmen zugutekommen?

Joannes Vermorel: Mit der uns zur Verfügung stehenden Technologie können wir die Unternehmensleistung erheblich verbessern. Vielleicht erreichen wir nicht alle Vorteile einer vollumfänglichen supply chain Digitalisierung, aber mit einer moderaten finanziellen Investition und in einem relativ kurzen Zeitraum können Unternehmen einen enormen Einfluss auf das Endergebnis haben. Deshalb gibt es meiner Meinung nach, bei all den Herausforderungen, die wir gesehen haben, einen wichtigen positiven Trend. Wir erkennen, dass die Zukunft bereits Gegenwart ist, und Unternehmen, die darüber nachdenken, wie sie vorankommen, müssen diese Gelegenheit nutzen, um einen Teil ihres Geschäfts zu verändern und zu digitalisieren, damit sie nicht die Herausforderungen von gestern, sondern die Herausforderungen und Chancen von morgen angehen können.

Nicole Zint: Professor, stimmen Sie Joannes’ Perspektive zur Bedeutung der supply chain Digitalisierung zu?

Prof. David Simchi-Levi: Absolut, ich stimme Joannes völlig zu. Die Vorteile der supply chain Digitalisierung sind beträchtlich, und Unternehmen, die sie nicht nutzen, werden zurückfallen. Wir sehen Unternehmen aus allen Branchen, die die Digitalisierung übernehmen und die Vorteile ernten. Von der Optimierung der Lagerbestände bis hin zur Verringerung der Durchlaufzeiten hat die supply chain Digitalisierung das Potenzial, Unternehmen zu transformieren.

Nicole Zint: Können Sie uns ein Beispiel für ein Unternehmen nennen, das die supply chain Digitalisierung erfolgreich umgesetzt hat?

Prof. David Simchi-Levi: Sicher, ein großartiges Beispiel ist Walmart. Walmart ist einer der weltweit größten Einzelhändler und konnte die supply chain Digitalisierung nutzen, um seine Betriebskosten zu senken und sein Endergebnis zu verbessern. Durch den Einsatz von Datenanalysen und maschinellen Lernalgorithmen konnte Walmart seine Lagerbestände optimieren, Verschwendung reduzieren und Lieferzeiten verbessern.

Nicole Zint: Danke, Professor, für dieses Beispiel. Und danke Ihnen beiden, dass Sie heute an dieser sehr interessanten Diskussion über die supply chain Digitalisierung teilgenommen haben.