00:00:07 Einführung in das Konzept der bionischen supply chain und Stefan Gstettners Hintergrund.
00:01:58 Erklärung der bionischen supply chain und ihrer Bedeutung in der Branche.
00:03:39 Lokads Ansatz für die bionische supply chain und die Rolle der Supply Chain Scientist.
00:05:36 Herausforderungen in der Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine und die Notwendigkeit eines bionischen Betriebsmodells.
00:07:50 Die vier Elemente eines bionischen Betriebsmodells: Führung, Betriebsmodell, Fähigkeiten und Technologieplattform.
00:08:29 Fallstricke bei der Transformation von supply chains in der Branche.
00:10:47 Führungskräfte, die sich darauf konzentrieren, den Wert zu steigern und sich auf die Zukunft vorzubereiten.
00:12:41 Umgang mit Komplexitäten in supply chains und der Einsatz von Technologie.
00:15:50 Das Konzept eines digitalen Zwillings und seine Rolle in einer bionischen supply chain.
00:17:18 Einsatz von Werkzeugen zur Erweiterung der menschlichen Intelligenz in supply chains.
00:19:31 Die Herausforderung, Talente zu gewinnen und die Zeit, die benötigt wird, um sie auszubilden.
00:20:22 Die Rolle der menschlichen Interaktion in zukünftigen supply chains.
00:21:28 Die Bedeutung eines veränderten Kontexts, um Verhaltensänderungen in supply chains anzustoßen.

Zusammenfassung

Die bionische supply chain, ein Konzept, das auf der Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine basiert, ist entscheidend für die Zukunft des supply chain management. Stefan Gstettner und Joannes Vermorel erörtern ihre Bedeutung und Herausforderungen und heben dabei die Notwendigkeit von End-to-End-Perspektiven und menschorientierten Betriebsmodellen hervor. Gstettner schlägt ein bionisches Betriebsmodell mit vier Elementen vor: Führung, Betriebsmodell, Fähigkeiten und Technologieplattform. Vermorel betont “approximately true” Prognosemethoden und bessere Werkzeuge zur Erweiterung der menschlichen Intelligenz. Beide Experten erkennen die Schwierigkeiten bei der Transformation von supply chains an, sind sich jedoch einig, dass das Gleichgewicht zwischen menschlicher Intuition und Technologie entscheidend ist, um sich an die sich verändernde Landschaft der Branche anzupassen.

Erweiterte Zusammenfassung

Sie erörtern das Konzept der bionischen supply chain und seine Auswirkungen auf die Zukunft des supply chain management.

Stefan Gstettner gibt einen Überblick über seinen Hintergrund und erklärt, dass er 25 Jahre Erfahrung im supply chain management besitzt. Er hat in der Beratung verschiedene Rollen übernommen und für sieben Jahre den operativen Betrieb eines omni-channel Einzelhandelsunternehmens in Deutschland geleitet. Außerdem lehrt er supply chain management am MIT, um dem Talentengpass in der Branche entgegenzuwirken.

Die bionische supply chain, so Gstettner, soll kein weiteres Schlagwort sein, sondern ein ernsthaftes Konzept. Sie entstand aus der Arbeit des BCG Think Tank zum Unternehmen der Zukunft. Das bionische Unternehmen konzentriert sich auf die Zusammenarbeit zwischen Maschinen, artificial intelligence, und Menschen und darauf, wie diese Kombination optimal genutzt werden kann. Dieses Konzept ist besonders relevant für das supply chain management, da es stark von Technologie, Analytik und artificial intelligence sowie von der Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine abhängig ist.

Joannes Vermorel teilt seine Gedanken zur bionischen supply chain und ist der Meinung, dass es sich um ein sehr relevantes Konzept handelt. Er erklärt, dass Lokad, ein Softwareunternehmen, das sich auf die Optimierung von supply chains spezialisiert hat, an der Idee der bionischen supply chain gearbeitet hat, wenn auch eher zufällig. Anfangs konzentrierten sie sich darauf, Softwarewerkzeuge für die prädiktive Optimierung von supply chains zu entwickeln, erkannten aber schnell die Komplexität der vorliegenden Probleme. Die Vorstellung, einen Machine-Learning-Algorithmus zu haben, der eigenständig Probleme wie die Standortwahl von Geschäften löst, erwies sich aufgrund der Vielzahl von Anwendungsfällen als zu schwierig.

Die Diskussion unterstreicht die wachsende Bedeutung des Konzepts der bionischen supply chain im supply chain management. Die Idee dreht sich darum, die Zusammenarbeit zwischen Menschen, Maschinen und artificial intelligence effektiv zu nutzen, um die Abläufe in der supply chain zu optimieren und zu verbessern. Sowohl Gstettner als auch Vermorel betonen die Relevanz dieses Konzepts für die Zukunft des supply chain management, wobei sie die Komplexität und die Herausforderungen, die mit der Implementierung einhergehen, anerkennen.

Sie erörtern die Herausforderungen der Mensch-Maschine-Interaktion und die Bedeutung eines bionischen Betriebsmodells für das supply chain management.

Vermorel erläutert den Ansatz seines Unternehmens, der sich auf die Rolle eines “Supply Chain Scientist” fokussiert. Diese Person ist dafür verantwortlich, Daten auszuwerten und Entscheidungen sowie Erkenntnisse zu generieren, während er gleichzeitig erster Ansprechpartner für Personen ist, die das System hinterfragen. Er stellt fest, dass diese Rolle noch nicht als “bionic” gilt, sich aber in diese Richtung entwickelt.

Gstettner betont, dass, obwohl beträchtliche Investitionen in das digitale supply chain management geflossen sind, der volle Wert noch nicht realisiert wurde. Er ist der Ansicht, dass die Fokussierung auf einzelne Teilfunktionen zu einem Verlust der End-to-End-Perspektive geführt hat, die für ein effektives supply chain management entscheidend ist. Um dem entgegenzuwirken, plädiert Gstettner für ein bionisches Betriebsmodell, das aus vier Elementen besteht: Führung, Betriebsmodell, Fähigkeiten und Technologieplattform.

Sowohl Gstettner als auch Vermorel erkennen die Schwierigkeiten bei der Transformation von supply chains an. Vermorel hebt das Problem des Problemdisplacement hervor, bei dem Verbesserungen in einem Bereich zu Problemen in einem anderen führen können. Er betont auch die Herausforderung, Komplexität in End-to-End-Softwarelösungen zu managen. Im Gegensatz dazu weist Gstettner darauf hin, dass Führungskräfte in erster Linie daran interessiert sind, den Wert für ihre Unternehmen zu steigern und sie zukunftsbereit zu machen. Sie konzentrieren sich auf organisatorische Veränderungen und grundlegende IT-Unterstützung, um Veränderungen voranzutreiben.

Vermorel erörtert die Bedeutung, im supply chain management “approximately true” zu sein, anstatt “exactly wrong”. Er weist darauf hin, dass Menschen darin gut sind, während Maschinen oft Schwierigkeiten haben. Lokad hat in diesem Bereich Fortschritte erzielt durch probabilistic forecasting, das eine more accurate Darstellung der Zukunft bietet als klassische Prognosemethoden. Allerdings war die Einführung dieses Ansatzes für diejenigen, die in der supply chain-Branche arbeiten, eine Herausforderung aufgrund der Unterschiede zu traditionellen Methoden.

Heutzutage stellt Gstettner fest, dass supply chain executives darauf fokussiert sind, einen Blick in die Zukunft zu werfen, um sich vorzubereiten. Sie sind daran interessiert, die potenziellen technologischen und organisatorischen Veränderungen zu verstehen, die ihre Branchen in den kommenden Jahren prägen werden. Führungskräfte setzen sich mit den zahlreichen technologischen Möglichkeiten auseinander und versuchen, die besten Wege zu finden, um in ihren Organisationen Veränderungen voranzutreiben.

Dieses Interview hebt die Notwendigkeit eines bionischen Betriebsmodells im supply chain management hervor, das End-to-End-Perspektiven und die Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine betont. Sowohl Vermorel als auch Gstettner diskutieren die Herausforderungen bei der Transformation von supply chains und die Bedeutung, ein Gleichgewicht zwischen menschlicher Intuition und technologischen Fortschritten zu finden. Supply chain executives müssen in die Zukunft blicken und überlegen, wie ihre Organisationen sich an die sich verändernde Landschaft ihrer Branchen anpassen können.

Vermorel drückt seine Begeisterung für das Konzept der bionischen supply chain aus, räumt jedoch auch die Frustrationen und Komplexitäten ein, die mit den Realitäten im supply chain management einhergehen. Er erklärt, dass das supply chain management angesichts der Unübersichtlichkeit der realen Welt den Umgang mit einer Vielzahl statistischer Modelle und Komplikationen beinhaltet, wie beispielsweise überflutete warehouses und Haltbarkeitsdaten für frische Lebensmittel. Außerdem weist Vermorel darauf hin, dass es für Menschen eine Herausforderung sein kann, wenn sie mit KPIs konfrontiert werden, Veränderungen zu akzeptieren und sich an solche anzupassen, die ihre persönlichen Interessen betreffen.

Chandler führt das Schlagwort “digital twin” ein, und Gstettner gibt zu, dass es ein schwer zu definierendes Konzept ist. Er schlägt jedoch vor, dass ein digital twin eine End-to-End-supply chain darstellt, auch wenn sie nicht zu 100 % genau ist. Durch das Erreichen einer 80 % genauen Darstellung können supply chain Manager die Systemdynamik besser verstehen und auf Basis von Szenarioanalysen klügere Entscheidungen treffen.

Vermorel argumentiert, dass, um supply chains bionischer zu machen, bessere Werkzeuge benötigt werden, um die menschliche Intelligenz zu erweitern. Er nennt Excel als Beispiel für ein Werkzeug, das es den Menschen ermöglicht hat, quantitative Analysen in einem unhumanen Maßstab durchzuführen, räumt jedoch ein, dass es keine ausreichende Lösung zur Modellierung komplexer Systeme ist. Vermorel ist der Meinung, dass Programmieransätze am erfolgreichsten darin waren, menschliche Einsichten in etwas Automatisiertes umzuwandeln, wenngleich er anerkennt, dass zukünftige technologische Fortschritte ihn eines Besseren belehren könnten.

Gstettner stimmt zu, dass zunehmende Automatisierung und Technologie eine größere Rolle bei der supply chain decision-making spielen werden, besteht jedoch darauf, dass menschliche Interaktion immer notwendig sein wird. Er betont die Wichtigkeit, ein menschorientiertes Betriebsmodell für die supply chain der Zukunft zu entwerfen, das einen geänderten Kontext erfordert, in dem sich Menschen verhalten. Gstettner ist der Meinung, dass der Schlüssel zur Veränderung menschlichen Verhaltens darin liegt, den Kontext zu verändern, beispielsweise durch die Schaffung ausgewogener, gut synchronisierter Zielsetzungen, um widersprüchlichen Zielen wie inventory management und Produktverfügbarkeit gerecht zu werden.

Vollständiges Transkript

Kieran Chandler: Hey, das Zusammenführen einer Reihe sich entwickelnder Technologien wie artificial intelligence, Blockchain und dem Internet of Things hat zur Entstehung eines neuen Konzepts geführt, das als die bionische supply chain bekannt ist. Heute bei Lokad TV freuen wir uns, Stefan Gstettner, einen Partner bei BCG, begrüßen zu dürfen, der uns ein wenig mehr über dieses Konzept erzählen und erläutern wird, wie es sich im Vergleich zu einigen der bestehenden Techniken auf dem Markt schlägt. Also Stefan, vielen Dank, dass du heute hier bist.

Stefan Gstettner: Danke, dass ich hier sein darf.

Kieran Chandler: Vielleicht kannst du uns als erste Frage ein wenig mehr über deinen Hintergrund erzählen und auch, was du bei BCG machst.

Stefan Gstettner: Absolut. Wie du schon sagtest, bin ich Partner bei BCG und konzentriere mich auf das end-to-end supply chain management und die damit verbundenen Logistikfragen. In dieser Rolle helfe ich unseren globalen Kunden in Kernbranchen, die neuen Chancen der digitalen Technologien zu nutzen und ihre supply chains schrittweise in digitale supply chains zu transformieren. Um dies zu ermöglichen, verfüge ich über 25 Jahre Erfahrung im supply chain management. Ich begann mit einer Promotion, zu einer Zeit, als es noch nicht einmal supply chain management genannt wurde. Ich hatte verschiedene Rollen in der Beratung, aber ich leitete auch den operativen Betrieb eines omni-channel Einzelhandelsunternehmens in Deutschland für sieben Jahre. Zusätzlich bin ich als außerordentlicher Professor am MIT tätig, wo ich junge Talente im supply chain management in deren Global Scale Programm unterrichte, was mir große Freude bereitet.

Kieran Chandler: Hervorragend, und heute ist unser Thema die Idee der bionischen supply chain. Es klingt sicherlich sehr futuristisch, aber vielleicht kannst du uns einen kurzen Überblick geben.

Stefan Gstettner: Wir wollen kein weiteres Schlagwort ins Spiel bringen, da es bereits viele gibt. Meine Kollegen vom BCG Think Tank, dem Bruce Henderson Institute, haben eine Vorstellung davon entwickelt, wie das Unternehmen der Zukunft aussehen wird. Es geht vor allem um die Zusammenarbeit zwischen Maschinen, artificial intelligence und Menschen und darum, wie das Unternehmen organisiert sein sollte, um diese Kombination optimal zu nutzen. Man nannte es das bionische Unternehmen. Für das supply chain management ist es besonders relevant, weil supply chain von Technologie, Analytik und artificial intelligence lebt, aber vielleicht noch wichtiger, weil es stark auf die Zusammenarbeit zwischen Menschen und Maschinen ankommt. Deshalb nennen wir es bionic supply chain, ohne ein neues Schlagwort ins Spiel zu bringen, sondern als ein sinnvolles Thema und eine gute Überschrift für das, was wir erreichen wollen.

Kieran Chandler: Wir lieben Schlagwörter absolut. Joannes, wir haben in der Vergangenheit über die Beziehung zwischen Menschen und Maschinen gesprochen, als wir uns Benutzeroberflächen angeschaut haben. Was sind deine ersten Gedanken zu dieser Idee der bionischen supply chain?

Joannes Vermorel: Ich glaube, es ist sehr relevant und passt eigentlich ziemlich gut zu dem, was Lokad bereits gemacht hat, wenn auch etwas zufällig. Wir hatten keinen großen Masterplan oder eine Vision. Unsere Herangehensweise zur Lösung von supply chain Problemen bestand darin, Softwarewerkzeuge für die prädiktive Optimierung von supply chains zu entwickeln. Wir haben schnell erkannt, dass die Komplexität, mit der wir umgehen mussten, enorm war. Die Idee, einen Machine-Learning-Algorithmus zu haben, der eigenständig herausfindet, wie man ein Problem löst – so einfach wie die Zuteilung von Geschäften –, war einfach zu viel, weil es zu viele Randfälle gibt. Also brauchten wir etwas…

Kieran Chandler: Also Joannes, kannst du uns mehr über Lokad und eure Tätigkeit erzählen?

Joannes Vermorel: Wir begannen mit der Idee der supply chain optimization, bei der wir auf menschliche Einsichten setzen und das Problem so gestalten konnten, dass die Maschine diese Erkenntnisse im Maßstab eines großen Einzelhandelsnetzwerks verwerten kann. Das war die Grundlage dessen, was wir taten, und letztlich entstand daraus die Idee, was wir bei Lokad den “Supply Chain Scientist” nennen, also jemand, der dafür verantwortlich ist, Daten auszuwerten und Entscheidungen sowie Erkenntnisse zu generieren, während er gleichzeitig erster Ansprechpartner für diejenigen ist, die das Geschehen in diesem System hinterfragen. Also, ja, ich denke, wir sind vielleicht noch nicht als Bionic zu bezeichnen, aber es ist ein Weg in diese Richtung. Obwohl ich nicht etwas so Prägnantes wie “binding supply chain” hatte, um unseren Weg zu leiten, als wir für die Welt tätig waren.

Kieran Chandler: Historisch gesehen, warum würdest du sagen, dass es für Menschen so schwierig war, mit Maschinen zu interagieren?

Stefan Gstettner: Ich würde nicht einmal sagen, dass es historisch sei. Wir haben wahrscheinlich alle schon vor 20 Jahren Algorithmen programmiert, also ist das nichts Neues. Aber in den vergangenen Jahren wurden erhebliche Investitionen in Digitales getätigt – nehmen wir beispielsweise die Bedarfsvorhersage. Es fließt eine enorme Menge an Intelligenz in die Bedarfsvorhersage, und dabei gibt es natürlich auch eine Zusammenarbeit zwischen Menschen und Algorithmen. Dennoch sehen die Führungskräfte, mit denen ich gesprochen habe, noch nicht, dass der volle Wert der supply chain ausgeschöpft wurde. Meiner Erkenntnis nach liegt es daran, dass die Menschen so beschäftigt waren, herauszufinden, wie sie mit einer Maschine zusammenarbeiten können. Es ist viel anspruchsvoller, dies mit Algorithmen zu tun als etwa mit Excel. Indem sie so sehr damit beschäftigt waren, denke ich, dass verloren ging, was das End-to-End supply chain management ausmacht: End-to-End. Überraschenderweise geht es nicht darum, sich auf eine Teilfunktion zu fokussieren. Es geht darum, die gesamte supply chain abzustimmen und zu synchronisieren – und das hat in meinen Augen etwas an Fokus eingebüßt. Jetzt müssen wir in Richtung eines Bionic-Modells gehen, um erneut zu betonen, dass Menschen zusammenarbeiten müssen – natürlich mit Hilfe von Maschinen – und das ist bisher noch nicht geschehen. Und das ist der Grund, warum einige Führungskräfte frustriert sind, weil sich die Investitionen nicht ausgezahlt haben. Deshalb sagen wir, es bedarf eines Bionic Operating Model, das im Wesentlichen aus vier Elementen besteht: Erstens, der Steuerung in der supply chain – also die guten alten KPIs; was wollen wir mit unserer supply chain erreichen? Geht es um Geschwindigkeit, Zuverlässigkeit oder Kostenorientierung? Und wie segmentieren wir die supply chain, und wie definieren wir Zielwerte? Ein gutes altes supply chain management – ohne das ist nichts digital. Dann das Operating Model, das unserer Meinung nach ein stark plattformgetriebenes Modell ist, um die Menschen, die die supply chain synchronisieren, zusammenzubringen – manchmal auch physisch. Zweitens, Fähigkeiten: Eine völlig andere Gruppe von Menschen, die in der Lage sind, die gesamte supply chain zu gestalten. Und drittens, die technologische Plattform – vielleicht nicht als Erstes, aber selbstverständlich als Grundlage, die wir benötigen. Und dies wurde bislang in nur sehr wenigen Unternehmen etabliert. Ich denke daher, dass dies historisch gesehen ein wenig die Enttäuschung über die digitale supply chain ist.

Kieran Chandler: Also, Joannes, als Softwareanbieter, was denkst du, welche Fallstricke Unternehmen begegnen, wenn sie versuchen, ihre supply chain zu optimieren?

Joannes Vermorel: Nun, als Anbieter, wenn es dir nicht gelingt, dieses End-to-End wirklich zu erfassen, dann lieferst du de facto nur eine Problemverlagerung. Du verschiebst ein Problem von einer Stelle zur anderen, und vielleicht sehen deine KPIs in dem silo – das du übernimmst – gut aus, aber tatsächlich hast du querseitig Probleme geschaffen. Du hast somit nicht wirklich bessere Fähigkeiten geliefert, sondern Werte zerstört, was sehr, sehr schlecht ist. Leider sind einige Großunternehmen darin sehr geübt. Und dann liegt die Herausforderung darin, dass sobald du etwas End-to-End Softwaretechnisches umsetzen willst, es zu einer unglaublichen Herausforderung wird, weil deine Software so unheimlich komplex wird. Ich denke, die meisten würden zustimmen, dass das durchschnittliche ERP – wir sprechen hier von tausenden Tabellen und hunderten Bildschirmen – einfach, wow, so viel Komplexität aufweist, und wir kratzen gerade erst an der Oberfläche. Wir haben also wirklich ein Problem des Komplexitätsmanagements. Die Frage ist: Wie kannst du das, was Menschen in Excel tun, erreichen? Sie machen etwas sehr Menschliches, aber das mit Maschinen nachzubilden, ist außerordentlich schwierig. Es geht darum, annähernd richtig zu sein, anstatt exakt falsch. Maschinen sind in großem Maßstab darüber hinaus hervorragend darin, exakt falsch zu sein. Bei Lokad hatten wir einige kleine Durchbrüche, wie die probabilistische Vorhersage, um dieser Idee des „annähernd Richtigen“ – also dem Betriebszustand – näher zu kommen. Aber es ist ein fortwährender Wandel. Und zwar ist es so, dass, obwohl ich denke, dass dies technologisch eine sehr relevante Antwort ist, es auch eine sehr überraschende Antwort für diejenigen ist, die die supply chain betreiben, da es überhaupt nicht so aussieht wie das, was sie zuvor gemacht haben, besonders im Vergleich zur klassischen Vorhersage. Also ist probabilistische Vorhersage eben Vorhersage: Es geht darum, Dinge über die Zukunft zu wissen – aber sie ist so bizarr im Vergleich zur klassischen Methode, dass sie in puncto Akzeptanz eine ganz eigene Kette bildet.

Kieran Chandler: Okay, Stefan, wie gehen Führungskräfte der supply chain an diese Probleme heran und versuchen, neue Technologien zu implementieren?

Stefan Gstettner: Nun, Führungskräfte sind nicht in erster Linie daran interessiert, Technologien zu implementieren. Sie sind vielmehr daran interessiert, den Wert für das Unternehmen zu steigern und sich auf die Zukunft vorzubereiten. Was sie zunehmend sehen und was ihnen ständig von außen signalisiert wird, ist, dass sich in zehn Jahren alles massiv anders präsentieren wird. Mein Lieblingssprichwort – ich glaube, es war Gates, der das sagte – lautet: Wir überschätzen die Veränderung in den nächsten zwei Jahren und unterschätzen die Veränderung in den nächsten zehn Jahren. Und es ist die Aufgabe der Führungskräfte, zehn Jahre vorauszublicken und nicht nur zwei. Genau das fordern sie jetzt von ihren Organisationen. Die Zukunft wird völlig anders aussehen. Seien wir ehrlich: Wir sehen es jetzt nicht, aber es wird so sein. Wie können wir uns also verändern – und zwar nicht in erster Linie technologisch, sondern auch organisatorisch? Deshalb betonen wir das Operating Model noch stärker. Und natürlich fragen sie auch, was die grundlegende Plattform bzw. Unterstützung im Bereich Systeme, Daten und Analysen sein wird, um diesen Wandel voranzutreiben. Man fragt sich weiterhin, warum meine Organisation nicht den Wandel vorantreibt, den ich mir wünsche. Es gibt einige Hemmnisse, die das Unternehmen noch nicht zukunftsfähig machen. Das beschäftigt die Führungskräfte momentan am meisten.

Kieran Chandler: Sprechen wir über eine bionic supply chain. Es klingt wie etwas aus Ironman – sehr cool und futuristisch. Wie sieht sie in Wirklichkeit tatsächlich aus?

Joannes Vermorel: Die Realität einer bionic supply chain ist sowohl frustrierend als auch faszinierend. Der frustrierende Aspekt ist, dass man, wenn man der Realität der supply chain begegnet, mit Hunderten von Tabellen konfrontiert wird, die ein digitales Abbild der Welt darstellen. Die Welt ist sehr unübersichtlich, und wenn man präzise sein will, muss man mit dieser Komplexität umgehen. Man sieht sich gezwungen, statistische Modelle zu nutzen, um Dinge wie überflutete Lagerhäuser, bizarre Kompatibilitätsprobleme bei Luftfahrtteilen oder Verfallsdaten auf Los-Ebene bei Frischwaren zu bewältigen. Es gibt also viele Komplexitäten, die berücksichtigt werden müssen, und das erfordert viel Aufwand. Technologisch erhält man selten etwas so Reines oder Sauberes, wie es die meisten guten Softwareprodukte bieten könnten.

Es gibt noch einen weiteren Aspekt. Theoretisch hätten wir gerne einen super rationalen Ansatz zur supply chain optimization, bei dem alle zustimmen, dass, wenn die Bilanz verbessert wird, es gut für das Unternehmen ist. Wenn externe Effekte wie Umweltauswirkungen anfallen, würden wir diese berücksichtigen, um eine umfassende Optimierung zu erreichen – externe Effekte eingeschlossen. Doch auf ganz alltägliche Weise ist es für die Menschen, wenn sie mit KPIs konfrontiert werden, oft hart.

Zum Beispiel hatten wir eine Erfahrung mit einem großen Einzelhandelsnetz, bei der wir diagnostizierten, dass der Lagerbestand in den Filialen zwei Funktionen erfüllt. Einerseits dient er dazu, Kunden zu bedienen – es muss genügend Inventar vorhanden sein, damit, wenn Kunden das Geschäft betreten, eine ordnungsgemäße Versorgung gewährleistet ist. Andererseits stellte sich heraus, dass ein erheblicher Teil des Bestands nicht für diesen Zweck gedacht ist, sondern aus Merchandising-Gründen – um das Geschäft ansprechend zu gestalten. Man könnte zu dem Schluss kommen, dass das Budget für den für Merchandising bestimmten Bestand besser dem Marketing zugeordnet werden sollte als der supply chain. Dies kann jedoch zu intensiven politischen Auseinandersetzungen innerhalb von Abteilungen führen, die plötzlich mit einer massiven Bestandsmenge in ihrem Budget konfrontiert werden. Dies kann manchmal Boni beeinflussen und Widerstand gegen Veränderungen hervorrufen.

Kieran Chandler: Da wir Buzzwords lieben, lassen Sie uns noch eines einführen: das Konzept eines digitalen Zwillings. Wie passt das in die Idee einer bionic supply chain, und wo kommt es ins Spiel?

Stefan Gstettner: Meiner Erfahrung nach kann der Begriff “digital twin” schwierig sein, da jeder ein anderes Verständnis davon hat. Es ist schon eine Herausforderung, die supply chain zu verstehen, aber das Hinzufügen des Wortes “digital” macht es noch undeutlicher. Wenn man einen digital twin hat, scheint es, als wisse niemand, worum es geht. Ich werde nicht versuchen, einen digital twin zu definieren, sondern vielmehr die Idee darlegen, eine Abbildung der gesamten supply chain zu besitzen. Ich stimme voll und ganz zu, dass diese Darstellung niemals zu 100 % exakt sein wird, aber momentan haben wir nur eine End-to-End-Darstellung, die zu 10 % genau ist. Wenn wir etwas in der Art einer zu 80 % genauen Darstellung der End-to-End supply chain erreichen können, können wir beginnen, die Systemdynamik zu verstehen. Wir könnten die Auswirkungen eines sprunghaften Anstiegs in der Bedarfsvorhersage verstehen, wie man den Zielbestand anpasst, wie man mit Produktionssequenzen spielt und was das für die Versorgungsseite bedeutet. Außerdem können wir verschiedene Szenarien durchspielen. Insofern kann ein digital twin das Mittel sein, das den Menschen dieses Denken ermöglicht.

Kieran Chandler: Wer steuert eigentlich die End-to-End supply chain, um mit Szenarien zu experimentieren und kluge Entscheidungen zu treffen, und wenn das mit einem day-to-edit wind gemeint ist, zählst du das als einen der zentralen Schlüssel-Enabler?

Stefan Gstettner: Ja, ich glaube, dass dies einer der Schlüssel-Enabler für intelligentere Entscheidungsfindungen in supply chains ist.

Kieran Chandler: Joannes, wenn wir in die Zukunft blicken und darüber nachdenken, was wir an unseren supply chains tun, um sie ein wenig bionic zu gestalten, benötigen wir dann bessere Werkzeuge, um die menschliche Intelligenz zu erweitern?

Joannes Vermorel: Ja, die Erweiterung der menschlichen Intelligenz ist für supply chains entscheidend. Auch wenn es ein großes Wort ist, kann es sich auch um etwas Einfaches handeln. Zum Beispiel ermöglicht Excel einer Person mit durchschnittlichen mathematischen Fähigkeiten, mit einer großen Menge an Zahlen umzugehen. Im neunzehnten Jahrhundert wäre es für einen einfachen Angestellten – selbst wenn er brillant war – unmöglich gewesen, tausende grundlegender Operationen pro Tag durchzuführen. In gewisser Weise verschaffen Werkzeuge wie Excel den Menschen quantitative Einblicke in einem nahezu unmenschlichen Ausmaß.

Allerdings stößt Excel bei der Modellierung komplexer Systeme an seine Grenzen, sodass es nicht die endgültige Lösung sein kann. Meiner Meinung nach waren die bisher erfolgreichsten Ansätze programmierbasiert, weil sie dabei helfen, menschliche Einsichten zu entkoppeln und in etwas Automatisiertes zu überführen. Ich denke, dass sich dieser Trend mindestens in den nächsten paar Jahren fortsetzen wird, auch wenn es möglich ist, dass ich einen Paradigmenwechsel, der später eintreten könnte, unterschätze.

Ich weiß auch, dass einige am MIT hart daran arbeiten, kluge Talente in das Feld der supply chain zu bringen. Allerdings glaube ich, dass der Zugang zu all den benötigten Talenten über mehrere Jahrzehnte hinweg ein erhebliches Engpassproblem darstellen wird. Es dauert lange, Menschen auszubilden, die wiederum in der Lage sind, andere auszubilden. Das ist einer der Gründe, warum das Silicon Valley so erfolgreich bleibt; dort gab es Generationen talentierter Softwareingenieure, die weitere Softwareingenieure ausbilden und innovativere Unternehmen hervorbringen konnten. Dasselbe gilt für das MIT – viele Universitäten versuchen, dessen Erfolg zu replizieren, aber es wird Jahrzehnte dauern, bis sie dort ankommen.

Kieran Chandler: Stefan, wie würde deiner Meinung nach eine erfolgreiche Bionic supply chain-Initiative aussehen?

Stefan Gstettner: Ich stimme zu, dass es einen wesentlich höheren Automatisierungsgrad geben wird und dass Technologie einen großen Anteil der Entscheidungsfindung in der supply chain übernehmen wird. Dennoch denke ich, dass es immer einen Bedarf an menschlicher Interaktion geben wird. Wir müssen ein menschenzentriertes Betriebsmodell für die supply chains der Zukunft entwerfen, das die von mir bereits beschriebenen Elemente beinhaltet.

Ein Aspekt, den es zu berücksichtigen gilt, ist das menschliche Verhalten. Wenn wir Verhalten ändern wollen, müssen wir verstehen, wie das gelingt, denn das historische Siloverhalten war nicht besonders erfolgreich. Wir glauben, dass der Kontext, in dem Menschen agieren, die wichtigste Triebkraft ihres Verhaltens ist. Ändern wir diesen Kontext nicht – zum Beispiel durch das Setzen ausgewogener und synchronisierter Zielvorgaben – werden sich die Menschen niemals ändern, und wir werden nie Erfolg und Leistung erzielen.

Ich denke, die kluge Kombination aus dem, was Unternehmen wie Lokad tun, und dem, was Unternehmen auf menschlicher Seite erwerben müssen, ist der Schlüssel. Diese Verbindung zwischen beiden, die wir als die Bionic supply chain bezeichnen könnten, ist die Zukunft.

Kieran Chandler: Hervorragend. Damit machen wir hier Schluss. Vielen Dank euch beiden für eure Zeit.

Joannes Vermorel: Danke.

Stefan Gstettner: Danke.

Kieran Chandler: Vielen Dank fürs Einschalten diese Woche, und wir sehen uns beim nächsten Mal wieder. Bis dahin, auf Wiedersehen.