00:00:07 Großflächige Störungen und langanhaltende Tail-Risiken in supply chains.
00:02:24 Die Schwierigkeit, Tail-Risiken in großen Unternehmen einzuschätzen und sich darauf vorzubereiten.
00:05:17 Die Bedeutung starker Führung zur Identifizierung und Minderung von Tail-Risiken.
00:06:30 Historischer Kontext und die Vorhersage potenzieller großflächiger Störungen.
00:07:08 Der Trugschluss, seltene Ereignisse vorherzusagen, und die Notwendigkeit probabilistischer Prognosen.
00:09:49 Hortung als kurzfristige und teure Lösung für supply chain Risiken.
00:11:55 Die Bedeutung agiler und anpassungsfähiger Produktion bei der Risikominderung.
00:14:14 Mangelnde Agilität in Entscheidungsprozessen und ihre Auswirkungen auf supply chains.
00:15:10 Anpassung von Preismechanismen als Reaktion auf Störungen in supply chains.
00:17:08 Produktion ausreichender essenzieller Produkte während einer Krise.
00:18:36 Intelligente Preispolitik zur Vermeidung von Hortung und Engpässen.
00:21:10 Weniger offensichtliche Lösungen für das supply chain Management.
00:24:31 Schnelles Neuberechnen und Optimieren von supply chain Strategien.

Zusammenfassung

In dem Interview diskutieren Kieran Chandler und Joannes Vermorel Tail-Risiken und deren Auswirkungen auf supply chains. Sie betonen die Bedeutung, diese seltenen, aber potenziell katastrophalen Ereignisse zu erkennen und sich darauf vorzubereiten. Vermorel hebt die Notwendigkeit starker Führung, probabilistischer Prognosen und agiler Produktionsprozesse zur Bewältigung von supply chain Risiken hervor. Er unterstreicht auch die Bedeutung von Software-Agilität sowie die Fähigkeit, Strategien während Störungen schnell neu zu berechnen, neu zu verarbeiten und neu zu optimieren. Das Gespräch unterstreicht die entscheidende Rolle von Anpassungsfähigkeit, programmatischem Ausdruck und schneller Reaktion im supply chain Management, um den Risiken unvorhergesehener Ereignisse entgegenzuwirken.

Erweiterte Zusammenfassung

In diesem Interview diskutieren Moderator Kieran Chandler und Joannes Vermorel, Gründer von Lokad, das Konzept der Tail-Risiken, von long tail Ereignissen und deren Auswirkungen auf supply chains. Vermorel erklärt, dass Tail-Risiken seltene Ereignisse sind, für die die meisten Unternehmen keine Routinen zur Bewältigung haben, und dass sie oft letztlich dafür verantwortlich sind, dass ein Unternehmen scheitert. Er beschreibt Tail-Risiken als extreme, unwahrscheinliche Ereignisse, die eher eintreten, wenn ein Unternehmen ein iteriertes Spiel spielt, wie beispielsweise den sich wiederholenden Zyklus von supply chain Abläufen.

Vermorel betont, dass Prognosen für Tail-Ereignisse nicht so wichtig sind, da ihre Wahrscheinlichkeit in der Regel ungleich Null ist. Das bedeutet, dass ein Unternehmen bei genügend Zeit zwangsläufig mit einem Tail-Ereignis konfrontiert wird. Er verwendet den Begriff “Black Swan”, um diese Szenarien zu beschreiben, die vielleicht einmal pro Jahrzehnt oder noch seltener auftreten. Auf die Frage, wie Menschen in der Regel an diese Szenarien herangehen, merkt Vermorel an, dass Verleugnung, Wunschdenken und allgemeine Unvorbereitetheit üblich sind. Er findet es bemerkenswert, dass größere Organisationen, die üblicherweise supply chains betreiben, größere Schwierigkeiten dabei haben, Risiken einzuschätzen.

Die Herausforderung, Tail-Risiken in einem Unternehmen anzugehen, resultiert oft aus der Schwierigkeit, einen Konsens über die Bedeutung dieser seltenen Ereignisse zu erzielen. Viele Menschen in einem Unternehmen sind sich der Risiken nicht bewusst oder halten sie für zu unwahrscheinlich, um berücksichtigt zu werden. Dies kann zu einer vorherrschenden Perspektive innerhalb der Organisation führen, die die Vorbereitung auf Tail-Ereignisse nicht priorisiert.

Das Interview konzentriert sich auf das Konzept der Tail-Risiken und deren Auswirkungen auf supply chains, wobei die Bedeutung hervorgehoben wird, diese seltenen, aber potenziell katastrophalen Ereignisse zu erkennen und sich darauf vorzubereiten. Unternehmen haben oft Schwierigkeiten, Tail-Risiken angemessen zu adressieren, da sie unwahrscheinlich erscheinen und es schwerfällt, in der Organisation einen Konsens über ihre Bedeutung zu erzielen.

Sie gehen auf die Herausforderungen ein, denen sich Unternehmen bei der Planung seltener, hochwirksamer Ereignisse gegenübersehen, und darauf, wie Risikomanagement effektiv angegangen werden kann.

Vermorel betont die Schwierigkeit, das Überleben eines Unternehmens langfristig vorherzusagen, insbesondere wenn die meisten Mitarbeiter nie länger als fünf Jahre in einem Unternehmen geblieben sind. Um Risiken zu mindern, schlägt er vor, dass Unternehmen über starke Führung verfügen müssen, um potenzielle Probleme zu erkennen und zu benennen. Er verweist auf einen TED-Talk von Bill Gates vor fünf Jahren, in dem Gates die Wahrscheinlichkeit diskutierte, dass ein grippeähnliches Virus weltweit erhebliche Störungen verursacht – ein Hinweis darauf, dass es möglich ist, potenzielle Risiken im Voraus zu erkennen.

Vermorel argumentiert jedoch, dass der Fokus nicht auf der Prognose spezifischer Ereignisse liegen sollte, sondern vielmehr auf der Einschätzung der Wahrscheinlichkeiten verschiedener Risiken und deren entsprechender Priorisierung. Dies ist besonders wichtig, wenn man bedenkt, dass Ressourcen begrenzt sind und Unternehmen oft mehreren Risiken gleichzeitig ausgesetzt sind.

Er erklärt, dass ein Risiko, das eine Chance von eins zu tausend hat und täglich zum Einsatz kommt, mit nahezu sicherer Wahrscheinlichkeit innerhalb der nächsten zwei Jahrzehnte eintreten wird. Daher ist probabilistische Prognose unerlässlich, um konkurrierende Investitionen in die Risikovorsorge auszugleichen.

Auf die Frage nach anderen Methoden zur Risikovorsorge erwähnt Vermorel die Hortung als einen gängigen, aber naiven Ansatz. Obwohl sie bis zu einem gewissen Grad bei der Bewältigung von Störungen helfen kann, ist Hortung eine teure und oft ineffiziente Lösung. Vorräte müssen ständig Auffüllung, da Produkte mit der Zeit an Qualität verlieren und eine begrenzte Haltbarkeit haben.

Stattdessen schlägt Vermorel vor, sich auf Strategien zu konzentrieren, die mehr Optionen bieten, um gleichzeitig verschiedenen Risiken zu begegnen. So kann es beispielsweise kosteneffektiver sein, agile Produktionsprozesse zu haben, die rasch von einem Produkttyp auf einen anderen umstellen können. Dies könnte den Einsatz ähnlicher Komponenten über eine Produktpalette hinweg beinhalten, was es Unternehmen ermöglicht, sich schnell an veränderte Umstände anzupassen und Risiken in ihren supply chains besser zu managen.

Das Gespräch hebt die Bedeutung starker Führung, probabilistischer Prognosen und agiler Produktionsprozesse hervor, um supply chain Risiken zu managen und Unternehmensabläufe angesichts seltener, hochwirksamer Ereignisse zu optimieren.

Das Gespräch beginnt mit einer Untersuchung, wie die Agilität in supply chains durch IT-Systeme und Software gelitten hat, wodurch Prozesse starrer werden. Vermorel stellt fest, dass in einigen Fällen das physische Verlegen von Waren zwischen Lagerhäusern schneller sei als die Neukonfiguration von IT-Systemen, wie etwa ERPs. Der Mangel an Agilität liegt nicht unbedingt an den physischen Prozessen, sondern vielmehr an der entscheidungsbasierte Optimierung und Umsetzung, die selbst bei offensichtlichen Lösungen langsam sein kann.

Das Gespräch wendet sich dann der Bedeutung eines schlanken und agilen supply chain zu, das nicht unbedingt darum geht, spezifische Szenarien vorherzusagen, sondern darum, schnell auf veränderte Umstände reagieren zu können. Chandler und Vermorel erörtern die Rolle von Preismechanismen im supply chain Management, wobei sie darauf eingehen, wie Regierungen häufig während Engpässen Preiskontrollen auferlegen. Vermorel argumentiert, dass dieser Ansatz fehlgeleitet ist und die Situation verschlimmern kann, da Preise ein Signal dafür sind, dass Unternehmen ihre Bemühungen in Bereiche umleiten sollten, die mehr Aufmerksamkeit benötigen.

Vermorel betont, dass es wichtiger ist, mehr zu produzieren, um Engpässe zu beheben, anstatt lediglich deren Folgen zu bekämpfen. Er bringt das Beispiel der Herstellung von hydroalkoholischem Gel, einem einfachen chemischen Produkt, und dessen Kunststoffbehälter an und argumentiert, dass es keinen Grund gibt, warum die Produktionskapazität nicht erhöht werden könnte, um Engpässe zu beheben. Unternehmen zögern jedoch möglicherweise, in mehr Maschinen zu investieren, wenn sie unsicher über die Dauer der gesteigerten Nachfrage sind. Höhere Preise können Unternehmen dazu anregen, in Ressourcen zu investieren, um vorübergehende Engpässe zu beheben.

Vermorel argumentiert daraufhin, dass Einzelhändler es versäumt haben, intelligente Preispolitiken umzusetzen, um Unordnung während Krisen wie der COVID-19-Pandemie zu verhindern. Er schlägt eine einfache Lösung vor, um Hortung zu unterbinden, und nutzt dabei Toilettenpapier als Beispiel. Einzelhändler könnten das erste Paket zu einem normalen Preis anbieten und dann den Preis für weitere Pakete deutlich erhöhen, um Kunden vom übermäßigen Kauf abzuhalten. Treuekarten könnten zur Steuerung dieser Preismodelle genutzt werden.

Sie diskutierten die Optimierung von supply chains und die Bedeutung von Agilität und Flexibilität bei der Reaktion auf Störungen. Vermorel betont, dass Unternehmen auf gegnerische Verhaltensweisen vorbereitet sein müssen und Lösungen priorisieren sollten, die reaktionsschnell und anpassungsfähig sind. Er glaubt, dass Software-Agilität entscheidend ist, um organisatorische Herausforderungen während Störungen zu bewältigen. Vermorel schlägt auch vor, dass Unternehmen in der Lage sein sollten, ihre Strategien innerhalb von Stunden neu zu berechnen, neu zu verarbeiten und neu zu optimieren, um supply chain Störungen effektiv zu bewältigen. Das Interview hebt die Notwendigkeit von programmatischem Ausdruck und schneller Reaktion im supply chain Management hervor, um den Risiken unerwarteter Ereignisse entgegenzuwirken.

Vollständiges Transkript

Kieran Chandler: Heute auf Lokad TV werden wir erörtern, ob diese Ereignisse tatsächlich vorhergesagt werden können und was supply chain Praktiker tun können, um deren Auswirkungen zu begrenzen. Joannes, vielleicht könntest du uns einen kurzen Überblick darüber geben, über welche long tail Ereignisse wir heute sprechen.

Joannes Vermorel: Tail-Risiken sind alle Arten von Risiken, die nur selten auftreten, und daher haben die meisten Unternehmen von vornherein keine Routinen, um mit diesen Risiken umzugehen. Doch wenn man bedenkt, was tatsächlich Unternehmen ruiniert – nicht Menschen, sondern wirtschaftliche Einheiten, die aus vielen Personen bestehen – sind es fast immer die Tail-Risiken. Es handelt sich dabei um unerwartete Ereignisse, die häufig in so enormem Ausmaß auftreten, dass das Unternehmen zugrunde geht. Natürlich kann es Fälle geben, in denen einige Unternehmen einen sehr allmählichen Niedergang über mehrere Jahrzehnte erleben und völlig verschwinden, aber das ist tatsächlich recht selten. In der Regel führen diese Risiken zu einem Phänomen, das immer schneller auftritt, bis das Unternehmen explodiert. Genau das ist beispielsweise Blockbuster, der Videothekenkonzern, widerfahren. Netflix war zunächst unbedeutend, bis es plötzlich nicht mehr so war, und die Katastrophe entfaltete sich in wenigen Jahren wie eine Tragödie in Zeitlupe. Darum geht es bei Tail-Risiken: um extreme Ereignisse, die zu jedem Zeitpunkt sehr unwahrscheinlich erscheinen, aber wenn man ein iteriertes Spiel spielt wie supply chains, in dem der gleiche Zyklus – die gleiche Produktions- oder Distributionskette – immer und immer wieder wiederholt wird, wird selbst etwas, das äußerst unwahrscheinlich erscheint, zum Beispiel etwas, das nur einmal pro Jahrhundert passiert, letztlich Realität. Also, zurück zu deiner ersten Frage zur Vorhersage: Es ist interessant, dass man sich gar nicht um die Prognose schert, sondern einfach weiß, dass, wenn die Wahrscheinlichkeit ungleich Null ist, das Unternehmen bei lang genug andauerndem Spiel irgendwann einem Tail-Ereignis gegenübersteht.

Kieran Chandler: Wir haben es in der Einleitung soeben erwähnt; wir sprechen über diese Black-Swan-Szenarien, die vielleicht einmal pro Jahrzehnt oder so auftreten. Was hast du bemerkt, wie Menschen an diese Szenarien herangehen?

Joannes Vermorel: Das Erste, was sehr häufig vorkommt, ist in der Regel Verleugnung, Wunschdenken und allgemeine Unvorbereitetheit. Es ist interessant, denn wenn es um große Organisationen geht, sind Unternehmen, die supply chains betreiben, fast zwangsläufig groß. Man betreibt keine supply chain aus der Garage. Diese Unternehmen sind zwangsläufig groß, und es ist bemerkenswert, dass es gerade umso schwieriger ist, ein Risiko einzuschätzen, je größer das Unternehmen ist. Denn es ist gewissermaßen das Gegenteil von dem, was man aus Design by Committee erhält, oder wenn man einen Konsens erreichen will – der Konsens lautet immer: “Oh, dieses Ding ist super unwahrscheinlich; damit müssen wir uns nicht befassen.” Natürlich, wenn man eine Durchschnittsbefragung macht, wären sich die meisten Menschen des Risikos nicht einmal bewusst. Wenn man also den Durchschnitt der Meinungen innerhalb eines Unternehmens bildet, wird die vorherrschende Antwort stets lauten: “Nein, das ist viel zu unwahrscheinlich, um überhaupt zu passieren, also kümmert es uns nicht.” Deshalb fällt es Unternehmen im Allgemeinen schwer, sich mit diesen Risiken auseinanderzusetzen, einfach weil es sehr schwierig ist. Übrigens, man muss bedenken, dass in einem Unternehmen nur sehr wenige Menschen tatsächlich langfristig interessiert sind.

Kieran Chandler: Das Überleben eines Unternehmens ist sehr schwierig. Ich meine, die meisten Menschen, wenn man sie fragt, können nicht sagen: “Kannst du dich in diesem Unternehmen in zehn Jahren sehen?” Die meisten Mitarbeiter würden antworten: “Nein, ich war in meiner gesamten Karriere nie länger als fünf Jahre in einem Unternehmen.” Daher ist es sehr schwierig, sich ein Jahrzehnt im Voraus zu projizieren. Wie geht man also mit seltenen Ereignissen um, die einmal pro Jahrzehnt passieren, wenn die Belegschaft überwiegend aus Personen besteht, die nicht einmal drei Jahre in einem Unternehmen bleiben?

Joannes Vermorel: Zunächst müssen Unternehmen diese Probleme anerkennen. Üblicherweise geschieht dies nicht in einem Komitee, also gibt es keine Abstimmung. Man braucht starke Führung, um die Probleme zu identifizieren. Die meisten davon sind nicht so schwer zu erahnen; meist ist es offensichtlicher, als die Menschen erwarten. Es ist interessant, wenn man an diejenigen denkt, die wirklich eine intelligente Risikobewertung vorgenommen haben. Es gibt einige TED-Talks von Bill Gates vor fünf Jahren, in denen er für seine Stiftung, Bill und Melinda Gates, sagte: “Welche Risiken, die das größte Leben bedrohen, sehen wir heute für die Welt?” Bill Gates stand vor fünf Jahren auf der Bühne und sagte, dass ein grippeähnliches Virus wahrscheinlich eine der größten Herausforderungen sei, denen die Welt derzeit gegenübersteht. Es ist also keine präzise Prognose. Bill Gates konnte nicht vorhersagen, dass 2020 das Jahr des Problems sein würde, aber jeder, der die Geschichte betrachtete, wusste, dass solche grippeähnlichen Probleme in der Menschheitsgeschichte im Grunde ein paar Mal pro Jahrhundert aufgetreten sind und seit Jahrhunderten bestehen.

Kieran Chandler: Okay, aber das ist nur eine Seite der Dinge: anzuerkennen, dass diese seltenen Szenarien tatsächlich eintreten könnten. Aber dann, denke ich, besteht die andere Seite darin, für diese Szenarien und deren Auswirkungen zu prognostizieren. Ich meine, sie sind so sporadisch. Ist das etwas, womit wir überhaupt anfangen können?

Joannes Vermorel: Zuerst einmal denke ich, dass das Problem fehlgeleitet ist. Man will ja nicht vorhersagen, dass diese Ereignisse eintreten werden. Es ist ein iteriertes Spiel; das spielt keine Rolle. Das ist ein Trugschluss, wenn Leute prognostizieren wollen. In gewissem Sinne glaube ich, dass das auch der Grund ist, warum es bei Lokad so schwer zu verstehen ist, wenn wir Dinge wie probabilistische Prognosen befürworten. Wenn du eine nicht unerhebliche Wahrscheinlichkeit hast, spielt es keine Rolle, ob deine Schätzung sehr ungenau ist. Wenn du sagst, dass es nur eine 0,1%-Chance gibt, dass dieses Ereignis mich umbringt, aber du spielst dieses Spiel jeden einzelnen Tag, dann bist du in drei Jahren tot. Es ist egal, ob deine Prognose korrekt oder falsch ist. Du musst Wege finden, die Wahrscheinlichkeiten dieser Ereignisse einzuschätzen, damit du wenigstens eine grobe Priorisierung vornehmen kannst. Hat es eine Chance von einer Million oder von tausend? Du musst in der Lage sein, das Problem relativ zu skalieren. Dann geht es einzig und allein darum, was du tun kannst, um dein Unternehmen auf dieses unvermeidliche Ereignis vorzubereiten.

Kieran Chandler: Also, was wir sagen, ist, dass obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass etwas passiert, sehr gering ist, wegen der iterativen Natur und weil wir dieses Spiel jeden Tag spielen, die Chance, dass es irgendwann passiert, irgendwie steigt?

Joannes Vermorel: Es ist nicht so, dass es passieren wird; es ist so, dass die Wahrscheinlichkeit gleich eins ist. Was die Leute nicht verstehen, ist, dass, wenn etwas nur eine Chance von eins zu tausend hat, es, wenn du dieses Spiel jeden Tag spielst, in den nächsten zwei Jahrzehnten nahezu mit absoluter Sicherheit eintreten wird. Es hat höchste Priorität. Der Trick ist, dass es ein iteratives Spiel ist. Deshalb geht es bei der Prognose nicht darum, zu beurteilen, ob das Risiko existiert oder nicht; es geht vielmehr darum, deine konkurrierenden Investitionen in die Risikovorsorge auszubalancieren.

Kieran Chandler: Ja, es ist ein ziemlich beunruhigendes Szenario. Probabilistische Prognosen sind ein Ansatz, um damit umzugehen. Gibt es noch andere Methoden, die auch solche Szenarien berücksichtigen?

Joannes Vermorel: Wenn die Leute an Vorbereitung denken, denken sie normalerweise an den naiven Ansatz, nämlich ums Horten. Das ist sehr interessant, und wir sehen das live, wenn Leute anfangen, Dinge wie Toilettenpapier zu hortieren. Horten ist ein sehr teurer Mechanismus. Ja, bis zu einem gewissen Grad hilft es, mit Störungen umzugehen, aber es widerspricht völlig allen lean, Kanban Ansätzen. Horten ist eine Antwort auf eine bestimmte Problemlage, aber es ist nur eine kurzfristige Lösung. Das Problem ist, dass für jeden Dollar, den du in Vorräte investierst, diese in der Regel nicht von Dauer sind, weil du es mit einem Problem zu tun hast, das sehr selten auftritt. Selbst wenn du hortest, musst du die Vorräte ständig wieder auffüllen, und das ist ein sehr kostspieliger Prozess, einfach weil Vorräte nicht ewig halten. Dinge haben ein Verfallsdatum, Produkte verschlechtern sich, und Kunststoff baut sich ab. Es gibt nur sehr wenige Dinge, die du in einen Schrank stellen und ein Jahrzehnt später wieder benutzen kannst, und die noch funktionieren. Wenn du ein Auto in eine Höhle stellst und zwei Jahrzehnte später zurückkommst, wird dein Auto nicht mehr starten, und du benötigst umfangreiche Wartungsarbeiten, um es wieder zum Laufen zu bringen. Dasselbe gilt für Batterien oder Ähnliches. Also, Horten ist ein Teil der Antwort, aber es gibt viele andere Strategien.

Kieran Chandler: Wenn Horten keine gute Strategie für einen supply chain practitioner ist, was wäre dann eine bessere Strategie, die er verfolgen könnte?

Joannes Vermorel: Wenn ich vom Horten spreche, ist das nicht sehr kosteneffizient, weil es dir nicht viele Optionen bietet. Das Problem ist, dass du nicht im Voraus weißt, welches deiner Szenarien eintreten wird. Es ist besser, wenn du bei der Vorbereitung an Optionen denkst – was du tun kannst, um dir mehr Möglichkeiten zu verschaffen, gleichzeitig vielen Risiken zu begegnen, was weitaus kosteneffektiver sein kann. Zum Beispiel kannst du eine agilere Produktion haben, bei der du schnell von einer Produktionsart auf eine andere umsteigen kannst. Nehmen wir zum Beispiel hydroalkoholisches Gel. Was brauchst du? Du brauchst eine Plastikflasche, eine Plastikpumpe, was im Grunde dasselbe ist, was du für eine große Vielzahl von Produkten benötigst, die nichts mit hydroalkoholischem Gel zu tun haben. Du benötigst auch einige sehr grundlegende Verbindungen wie Alkohole und Wasser, die in einer ganzen Reihe von Industrien verwendet werden. Also lautet die Frage: Wenn du in diesen Industrien tätig bist, selbst wenn du dieses Produkt nicht herstellst, kannst du dann fast über Nacht mit der Produktion beginnen? Und das ist auch etwas sehr Interessantes an modern supply chains, denn häufig verlangsamen IT-Systeme und Software die Prozesse. In den letzten Jahrzehnten sind supply chains allmählich starrer geworden, oft aufgrund von Software-Setups.

Kieran Chandler: Bei vielen E-Commerce-Unternehmen ist es tatsächlich schneller, Waren physisch von einem Lagerhaus zum anderen zu verlagern, als das IT-System oder das ERP umzukonfigurieren. In diesem Fall kann der Transfer von Waren von einem Lagerhaus zum anderen buchstäblich in zwei Tagen erfolgen, während der Wechsel im ERP sechs Monate in Anspruch nehmen kann. Agilität fehlt heutzutage oft. Es ist nicht auf physischer Ebene, dass Agilität schwach ist; sie mangelt buchstäblich im Entscheidungsprozess, vor allem wenn Tail Risks beginnen, sich zu entfalten. Was ich sehe, ist, dass die meisten Unternehmen, selbst wenn sie allmählich beginnen anzuerkennen, dass das Problem real ist, immer noch sehr zögerlich sind, tatsächlich etwas umzusetzen, obwohl die Lösungen sehr offensichtlich sind. Kannst du erraten, woran ich denke?

Joannes Vermorel: Nun, was wir hier erklären, ist, dass es bei einer schlankeren, agileren supply chain nicht darum geht, vorherzusagen, welches dieser Szenarien eintreten könnte, sondern darum, sich in eine Position zu bringen, in der man schnell reagieren kann. Darauf sollten wir uns konzentrieren.

Kieran Chandler: Ja, kommen wir zum nächsten Thema. Eine Möglichkeit zu reagieren besteht darin, die Preisgestaltung und den Preisbildungsmechanismus anzupassen. Warum ist das so vorteilhaft?

Joannes Vermorel: Preisbildungsmechanismen sind interessant, denn wenn man die Mainstream-Presse liest und sieht, was Regierungen tun, setzen sie buchstäblich Preisobergrenzen durch. Das ist in Frankreich und Kalifornien mit Gesetzen gegen Preistreiberei geschehen. Ich glaube, dass dies ein fehlgeleiteter Ansatz ist, der die Situation nur verschlimmern wird. Preise sind ein sehr wichtiges Element, damit Märkte funktionieren, und die Preisgestaltung ist ein Signal, das Unternehmen hilft, ihre Anstrengungen dorthin zu lenken, wo Handlungsbedarf besteht. Wenn die Leute sehen, dass die Preise in die Höhe schießen, ist die instinktive Reaktion, Preisobergrenzen zu verhängen. Aber das Problem dabei ist, dass man den Anreiz für Unternehmen entfernt, mehr zu produzieren und so den Engpass ganz zu beseitigen. Heutzutage gibt es keinen Grund, warum wir nicht genügend eines Produkts – wie beispielsweise hydroalkoholisches Gel – produzieren könnten. Es ist ein äußerst simples chemisches Produkt, und der Plastikbehälter ist ebenfalls unglaublich simpel. Wenn wir pro Person und Tag eine Flasche herstellen müssten, würde das weltweit nicht einmal an unsere Kapazitäten stoßen. Aber das Problem ist, dass die Produzenten mit einer temporären Situation konfrontiert sind. Sind sie bereit, in zusätzliche Maschinen zu investieren, die vielleicht nur für ein paar Monate benötigt werden? Ein höherer Preis ist eine Möglichkeit, die Investitionen in diese Ressourcen zu finanzieren. Ich glaube, dass in der aktuellen Krise, in der der Einzelhandel scheitert, intelligente Preispolitiken eingeführt werden müssen, um eine Desorganisation zu vermeiden. Zum Beispiel beim Toilettenpapier gibt es extrem einfache Wege, mit der Situation umzugehen. Man könnte sagen, dass das erste Pack zum Normalpreis erhältlich ist, allerdings mit Vorlage der Kundenkarte. Legt man die Kundenkarte vor, erhält man Rabatt auf das erste Pack, während das zweite zu einem höheren Preis verkauft wird.

Kieran Chandler: Statt also zwei Euro pro Pack zu zahlen, steigt der Preis auf 20 Euro, und plötzlich können die Leute nicht mehr in Eile kaufen und plötzlich einfach mit 200 Euro das Äquivalent von vier oder sechs Monaten normalem Verbrauch für eine durchschnittliche Person erwerben. Das ist also ein Beispiel dafür, wie man verhindert, dass Menschen horten, indem man solche Arten von Kundenkarten einsetzt. Was glaubst du, wie die Kunden reagieren würden, wenn ihnen tatsächlich begrenzt wird, was sie kaufen dürfen? Ich meine, wir steuern auf ein sowjetisches Staatsbeispiel zu.

Joannes Vermorel: Das Problem ist, mein Rat wäre natürlich, dass es in solchen Situationen durchaus vernünftig ist, wenn Menschen – besonders solche mit Familien und Kindern – ein wenig zu horten. Das ist akzeptabel. Offensichtlich würde ich nicht befürworten, dass man für die nächsten sechs Monate hortet, denn das wäre keine ethische Reaktion. Damit schaffst du ein großes Problem für den Rest von uns. Dennoch halte ich es für sehr wichtig, sich nicht auf Wunschdenken zu verlassen. Du kannst keinen Plan haben, der darauf basiert, dass jeder ehrlich sein wird. So funktioniert die Welt nicht. Wann immer du etwas unternehmen willst, musst du damit rechnen, dass es um Menschen geht und dass es auch gegensätzliche Verhaltensweisen geben wird. Das wird oft vergessen. Es ist nicht so, dass alle Menschen schlecht sind. Die statistische Realität in Gesellschaften – und in fast allen Gesellschaften tatsächlich – ist, dass die überwältigende Mehrheit der Menschen ehrlich ist. Andernfalls, wenn mehr als ein winziger Bruchteil von Prozent der Menschen Mörder wären, würden die Gesellschaften zusammenbrechen. Das Gewaltaufkommen wäre unerträglich. Also, die überwältigende Mehrheit der Menschen ist sehr ehrlich, diszipliniert und handelt tatsächlich zum Wohle ihrer Mitmenschen.

Kieran Chandler: Du hast die Preisgestaltung als eine dieser potenziellen Lösungen erwähnt. Ich denke, es ist die offensichtlichste kurzfristige Lösung und sehr wünschenswert. Welche anderen, vielleicht weniger offensichtlichen Lösungen könnten in diesen Szenarien von Vorteil sein?

Joannes Vermorel: Weniger offensichtliche Lösungen wären zum Beispiel, direkt zu entscheiden, bestimmte Produkte nicht mehr herzustellen. Wenn du merkst, dass die Nachfrage zurückgehen wird – nehmen wir an, ich bin ein Unternehmen, das Plastik für Plastikflaschen und -behälter produziert und das sowohl für Shampoo als auch für hydroalkoholisches Gel verwendet werden kann, wenn wir beim gleichen Beispiel bleiben – dann musst du irgendwann eine sehr radikale Entscheidung treffen und sagen: „Wann höre ich eigentlich auf, Shampoo zu produzieren und benutze stattdessen dieselbe Plastikflasche, um hydroalkoholisches Gel abzufüllen?“ Ja, es wird nicht perfekt sein. Es ist nicht genau der passende Behälter, aber er kann funktionieren. Deshalb musst du in solchen Fällen bereit und einfallsreich sein und Wege finden, die Produktion potenziell auf die Dinge umzulenken, die am wichtigsten sind. Und letztendlich läuft es auf die Agilität der supply chain hinaus, wobei ich in der heutigen Zeit sagen würde, dass es vor allem um die Software-Agilität geht, denn das Problem liegt sehr häufig nicht auf physischer Ebene, sondern buchstäblich in der Software.

Kieran Chandler: Um unsere heutige Diskussion zusammenzufassen: Die Hauptlektion in Bezug auf Tail Risk ist, dass es ein Szenario ist, das unvermeidlich eintreten wird. Der beste Weg, uns zu schützen, besteht darin, so flexibel und reaktionsschnell wie möglich in unseren supply chains zu agieren.

Joannes Vermorel: Ja, und noch ein dezent selbstbezogener Hinweis, aber ich denke, es macht Sinn. Das sind die Situationen, in denen Katastrophenvorsorge wirklich zählt. Programmgesteuerte Fähigkeiten, um schnell annähernd korrekte Strategien umzusetzen, sind entscheidend. Wenn dein ERP starr auf Sicherheitsbestand Richtlinien ausgerichtet ist, die ewig brauchen, um aktualisiert zu werden, oder auf ABC-Analyse beruht, die bedeutungslos wird, weil sie die Vergangenheit widerspiegelt, dann sind diese Werkzeuge völlig ungeeignet, um eine schnelle Reaktion zu gewährleisten. Du musst über programmgesteuerte Ausdruckskraft verfügen.

At Lokad, we have been building systems that allow companies to the extent they can, do something and develop non-standard, non-mainstream plans that can potentially revisit entire strategies within hours. That’s why our four pillars are: forecast all possible futures, look at all possible decisions, prioritize everything in terms of dollars or euros of value, and robotize everything so that you can recompute everything in one hour.

The reason you want to be able to recompute, reprocess, and reoptimize everything in one hour is that, if there’s a big disruption taking place in your supply chain, you need tools that can roll out a completely revised strategy, even if it’s fairly approximate, literally within hours. Nowadays, most companies are years, or even light years, away from these sorts of things. Thus, whenever they face an existential disruption, it can lead to bankruptcy. They frequently lack basic response tools and resort to things like Excel, which are very rudimentär when you want to execute with a certain degree of reliability, rapidly and at scale.

Kieran Chandler: Okay, wir müssen hier wohl Schluss machen und uns wahrscheinlich in jene Warteschlangen in den Supermärkten einreihen, die diese Strategien noch nicht umgesetzt haben. Das war also alles für diese Woche. Vielen Dank fürs Einschalten, und hoffentlich sehen wir uns beim nächsten Mal. Bis dahin, auf Wiedersehen.