00:00:07 Negatives Wissen und seine Bedeutung.
00:00:37 Positives vs. negatives Wissen und ihre Anwendungen.
00:02:15 Warum Unternehmen sich mehr für negatives Wissen interessieren.
00:04:11 Negatives Wissen erfassen und aus vergangenen Misserfolgen lernen.
00:06:54 Die Unternehmenskultur verändern, um negatives Wissen anzunehmen.
00:08:01 Die Bedeutung des schnellen Scheiterns im supply chain management.
00:08:54 Faktoren, die die Fähigkeit behindern, schnell zu scheitern und aus Fehlern zu lernen.
00:11:02 Zahlen nach Belieben aussuchen und den Fokus auf das Falsche legen.
00:12:44 Aus prominenten Misserfolgen und ihren Ursachen lernen.
00:15:33 Wissen über vergangene Misserfolge kultivieren, um Fehler nicht zu wiederholen.
00:17:48 Amazons Ansatz zum negativen Wissen durch schriftliche Memos.
00:19:02 Der Mangel an Dokumentation von Misserfolgen in der supply chain Branche.
00:21:24 Die Rolle der Führungskräfte beim Annehmen und Dokumentieren von Misserfolgen.
00:23:00 Anekdote aus dem Manhattan Project über das Lernen aus Fehlern trotz schwerwiegender Konsequenzen.
Zusammenfassung
Kieran Chandler und Joannes Vermorel diskutieren die Bedeutung von negativem Wissen beim Lernen aus Fehlern, besonders in komplexen Bereichen wie supply chain management. Vermorel hebt hervor, dass Misserfolge angenommen und dokumentiert werden müssen, da menschliche Fehlerhaftigkeiten Fehler unvermeidlich machen. Er teilt eine Anekdote aus dem Manhattan Project, in der die Dokumentation eines kritischen Vorfalls durch einen Forscher zu wertvollen Erkenntnissen führte. Vermorel betont, wie wichtig es ist, eine wissenschaftliche Denkweise anzunehmen und Fehler anzugehen, um sicherzustellen, dass sie zu wertvollen Lektionen werden, anstatt zu negativen Erfahrungen. Das Eingestehen und Lernen aus Fehlern kann zukünftigen Teammitgliedern helfen, von diesem Wissen zu profitieren.
Erweiterte Zusammenfassung
Im Interview diskutieren Kieran Chandler und Joannes Vermorel das Konzept von negativem Wissen und seine Bedeutung beim Lernen aus Fehlern. Negatives Wissen bezieht sich darauf, zu verstehen, was nicht funktioniert – etwas, das besonders in komplexen oder “weichen” Bereichen wie Soziologie, Wirtschaft und supply chain management relevant sein kann.
Vermorel hebt den Unterschied hervor zwischen positivem Wissen, das aus dem Entdecken und Verstehen von Gesetzen und Prinzipien entsteht, und negativem Wissen, das sich darauf konzentriert, zu identifizieren und daraus zu lernen, was nicht funktioniert. Er führt das Beispiel der Grundlagenwissenschaften, etwa der Physik, an, wo positives Wissen unglaublich erfolgreich war. In diesen Bereichen haben brillante Köpfe Vorhersagen über Phänomene wie schwarze Löcher gemacht, die später bestätigt wurden.
Doch in komplexen Bereichen wie supply chain management ist positives Wissen weniger hilfreich, da die Situationen oft irreduzibel komplex sind. Supply chains bestehen aus vielen einfachen Komponenten wie Kisten, trucks, und Paletten sowie verschiedenen Kombinationen von Menschen, Software, Maschinen und Netzwerken. Diese Faktoren interagieren und erzeugen Undurchsichtigkeit und Komplexität, was die Anwendung positiven Wissens erschwert.
Negatives Wissen ist weder modisch noch populär, doch Vermorel schlägt vor, dass es umso wichtiger wird, je weiter man in komplexe Bereiche vordringt. Er kontrastiert die superkomplizierte Natur der Quantenmechanik, die von einigen wenigen komplexen physikalischen Gesetzen beherrscht wird, mit der Komplexität von supply chains, bei denen die einzelnen Komponenten einfach sind, ihre Interaktionen jedoch Komplexität erzeugen.
Um negatives Wissen zu erfassen und daraus zu lernen, empfiehlt Vermorel, die Allgegenwärtigkeit von Misserfolgen im supply chain management anzuerkennen. Er weist darauf hin, dass trotz der Behauptungen der Anbieter, nur Erfolge vorweisen zu können, Misserfolge häufig sind. Als er Lokad gründete, war die Optimierung von supply chains kein neues Konzept, doch die Branche wimmelte bereits vor Misserfolgen und Ineffizienzen.
Vermorel berichtet von seinen Erfahrungen bei der Führung von Lokad, wo er mehrere Generationen von Misserfolgen in Optimierungsprojekten von supply chains entdeckte. Er betont, wie schwierig es ist, Wissen über diese Misserfolge zu erlangen, da sie oft unkommuniziert bleiben – aus Angst vor Schuldzuweisungen und den negativen Auswirkungen auf den Lebenslauf.
Anschließend untersucht Vermorel das Konzept, die Unternehmenskultur zu verändern, um Misserfolge anzunehmen. Er argumentiert, dass toxische Slogans wie “gleich beim ersten Mal alles richtig machen” eine Kultur schaffen, in der Misserfolge verborgen und nicht kommuniziert werden. Andererseits plädiert er für die “fail fast”-Mentalität, wie sie im Silicon Valley populär wurde, die dazu ermutigt, Risiken einzugehen und schnell zu iterieren, um Erfolg zu haben. Die Herausforderung im supply chain management besteht darin, schnell zu scheitern, ohne das Unternehmen zu gefährden oder massive Risiken einzugehen.
Ein Weg, eine „fail fast“-Kultur zu ermöglichen, ist es, langfristige Verpflichtungen mit großen Lieferanten zu vermeiden, da diese die Fähigkeit einschränken, im Angesicht von Misserfolgen schnell zu reagieren. Vermorel weist darauf hin, dass er in Branchen wie der Luft- und Raumfahrt mehrjährige Verträge gesehen hat, was seiner Meinung nach die Fähigkeit beeinträchtigt, Misserfolge zu erkennen und anzugehen.
Ein weiteres Thema, das Vermorel anspricht, ist der Fokus auf den Return on Investment (ROI), der Anbieter dazu verleiten kann, ihre Erfolgsgeschichten zu übertreiben. Stattdessen schlägt er vor, dass Unternehmen sich darauf konzentrieren sollten, Misserfolge rasch zu identifizieren und Aktivitäten, die keinen Mehrwert bieten, sofort zu stoppen.
Um sich von den negativen Konnotationen des Scheiterns zu lösen, fragt Chandler Vermorel, wie Unternehmen aus ihren Fehlern lernen können. Der erste Schritt, so Vermorel, besteht darin anzuerkennen, dass selbst große und erfolgreiche Unternehmen wie Amazon und Google gescheiterte Projekte hatten. Unternehmen sollten sich darauf konzentrieren, aus diesen Misserfolgen zu lernen und schnell zu iterieren, um in einer eher „kapitalistischen“ Weise voranzukommen – das heißt, sie sollten ständig danach streben, dem Unternehmen Mehrwert zu verschaffen.
Vermorel betont, wie wichtig es ist, vergangene Misserfolge zu untersuchen – etwa den Fall eines halben Milliarden-Euro-Projekts, das in Deutschland gescheitert ist. Er erwähnt auch Accenture’s Rechtsstreit mit Hertz wegen eines misslungenen Webplattform-Projekts und unterstreicht die Bedeutung, die Gründe hinter diesen kostspieligen Fehlern zu verstehen.
Nach Vermorel neigen Menschen dazu, sich auf optimistische Zukunftsaussichten zu konzentrieren, wie sie in TED Talks präsentiert werden, anstatt die Probleme und Misserfolge zu erforschen, die vorgekommen sind. Die Hauptursachen dieser Misserfolge sind menschliche Schwächen wie Faulheit, mangelnde Neugierde und manchmal Inkompetenz. Um aus diesen Fehlern zu lernen, benötigt man eine andere Denkweise, bei der man Zeit damit verbringt, zu recherchieren und zu verstehen, was schiefgelaufen ist.
Die supply chain Branche ist besonders anfällig für kostspielige Fehler, die oft im Verborgenen bleiben, weil sie die Finanzen eines Unternehmens stark belasten. Vermorel stellt die Frage, ob es Branchen gibt, die besser darin sind, aus negativem Wissen zu lernen, und nennt das Journal of Negative Results in Biomedicine als Beispiel für einen kontroversen Versuch, die Veröffentlichung negativer Ergebnisse in der wissenschaftlichen Forschung zu fördern.
Vermorel lobt Amazon für den effektiven Umgang mit negativem Wissen und führt diesen Erfolg auf die Unternehmenskultur zurück, die auf schriftlichen Memos statt auf PowerPoint-Präsentationen basiert. Er ist der Meinung, dass einfacher Fließtext und vollständige Sätze es erschweren, das Wesentliche eines Problems zu verschleiern, und dass dieser Ansatz dabei helfen kann, ausweichende Formulierungen zu identifizieren.
Allerdings äußert der Gastgeber die Befürchtung einer Informationsüberflutung, wenn jeder Misserfolg dokumentiert würde. Vermorel widerspricht dem und stellt fest, dass in der supply chain Branche oft sehr wenig dokumentiert wird. Seiner Ansicht nach hängt dieser Mangel an Dokumentation mit der Allgegenwärtigkeit von Misserfolgen zusammen, da Führungskräfte und das Management möglicherweise nicht die Spuren ihrer Fehler hinterlassen möchten, selbst wenn diese letztlich zum Erfolg geführt haben.
Die zentrale Botschaft ist, dass Führungskräfte Misserfolge in ihren Teams akzeptieren und sogar feiern sollten, denn Menschen sind von Natur aus fehlerhaft und Fehler passieren. Vermorel betont, dass man Fehler mit einer wissenschaftlichen Denkweise angehen und die Situation für künftige Referenzen dokumentieren muss.
Vermorel teilt eine Anekdote über einen kritischen Vorfall in den frühen Tagen des Manhattan Projects. Obwohl die beteiligten Forscher letztlich an Strahlenvergiftung starben, hatte ein Forscher die Weitsicht, Notizen über die Positionen aller Anwesenden zu machen. Diese Informationen führten später zu wichtigen Erkenntnissen über Strahlenvergiftung und deren Zusammenhang mit der Entfernung zur Strahlenquelle.
Die Diskussion beleuchtet auch den Stress und Druck, dem Menschen ausgesetzt sind, wenn etwas schiefläuft. Vermorel räumt ein, dass es in solchen Situationen schwierig sein kann, klar zu denken und die Fassung zu bewahren. Dennoch betont er, wie wichtig es ist, Misserfolge zu dokumentieren und daraus zu lernen, damit zukünftige Teammitglieder von diesem Wissen profitieren können. So wird sichergestellt, dass Fehler zu wertvollen Lektionen und nicht nur zu negativen Erfahrungen werden.
Vollständiges Transkript
Kieran Chandler: Heute bei Lokad TV werden wir verstehen, wie viele Unternehmen tatsächlich Fehler machen können, aber nur die Besten daraus lernen, indem sie etwas anwenden, das man negatives Wissen nennt. Also Joannes, das haben wir schon einmal angesprochen – was meinen wir eigentlich mit negativem Wissen?
Joannes Vermorel: Negatives Wissen bedeutet zu wissen, was nicht funktioniert. Es ist irgendwie verwirrend, denn es gibt Wissenselemente, wie in den Grundlagenwissenschaften, in denen wir mit positivem Wissen unglaubliche Erfolge erzielt haben. Zum Beispiel haben wir physikalische Gesetze entdeckt, und vor fast einem Jahrhundert sagten einige unglaublich brillante Köpfe voraus, dass schwarze Löcher existieren sollten. Und siehe da – buchstäblich etwa ein Jahrhundert später gelang uns die erste direkte Beobachtung eines schwarzen Lochs. Das ist positives Wissen, und es funktioniert unglaublich gut in den Grundlagenwissenschaften wie der Physik. Aber in weichen Bereichen wie Soziologie und Wirtschaft ist es typischerweise das negative Wissen, das am besten wirkt. Man kann nie mit absoluter Sicherheit sagen, dass etwas vollkommen wahr oder funktionsfähig ist, aber man kann recht sicher sein, dass etwas grundlegend falsch ist oder nicht funktioniert.
Kieran Chandler: Schauen wir uns einige dieser „weichen“ Bereiche an, wie du sie genannt hast. Warum ist negatives Wissen für sie so interessant?
Joannes Vermorel: Nun, das Hauptproblem ist, dass Unternehmen nicht besonders an negativem Wissen interessiert sind. Es gilt als uncool und ist überhaupt nicht modisch. Meiner Ansicht nach wird negatives Wissen immer wichtiger, je mehr man sich mit unscharfen, komplexen Themen beschäftigt. Quantenmechanik ist superkompliziert, aber es gibt nicht allzu viele physikalische Gesetze, die die Quantenphysik regeln. Andererseits ist eine supply chain gewissermaßen das Gegenteil. Es gibt nichts, was grundsätzlich superkompliziert wäre; man hat Kisten, trucks, Paletten, Maschinen, die Dinge produzieren. Die elementaren Teile sind alle recht simpel, aber man hat viele davon, und Kombinationen aus Menschen, Software, Maschinen und Netzwerken von Mitarbeitern erzeugen eine enorme Undurchsichtigkeit. Es ist sehr schwer, diese superkomplexen Bereiche mit positivem Wissen anzugehen, weil man seine supply chain nicht in ein paar Axiome oder winzige Elemente fassen kann, die alles erklären würden. Vereinfachte Ideen scheitern oft, wenn sie in der Realität mit zahllosen Randfällen konfrontiert werden, die in diese vereinfachte Perspektive nicht passen.
Kieran Chandler: Okay, du sprichst also davon, dieses negative Wissen zu erfassen. Welche Möglichkeiten gibt es, dieses Wissen festzuhalten?
Joannes Vermorel: Zunächst einmal muss man anerkennen, dass Misserfolge in supply chains und IT allgegenwärtig sind. Die meisten Anbieter behaupten, nur eine Reihe von Erfolgen vorweisen zu können, aber das entspricht nicht der Realität. Am erstaunlichsten war, dass, als ich Lokad vor etwa zehn Jahren gründete, die Optimierung von supply chains noch kein neues Konzept war.
Kieran Chandler: Das war schon uralt – uralt nach Software-Standards, quasi vier Jahrzehnte alt, so alt, wie es nur sein kann, was enterprise software betrifft. Somit gab es bereits, noch bevor ich anfing, Generationen von Misserfolgen. Sehr interessant ist, dass ich in meinen zehn Jahren bei Lokad all diese bisher unbesprochenen Misserfolge entdeckte, die vor uns passiert waren. Selbst wenn wir Erfolge hatten, erforderte es viel Mühe zu erkennen, dass wir tatsächlich erfolgreich waren – es gab etwa sechs vorherige Versuche, meist undokumentiert und stillschweigend begraben.
Joannes Vermorel: Es war sehr schwierig, überhaupt Wissen über die Situationen zu erlangen, in denen wir scheiterten – und das passierte häufig. Noch ärgerlicher war, dass, wenn man scheiterte und am Ende des Projekts eine Nachbesprechung stattfand, man endlich einige wertvolle Informationen herausfiltern konnte. Es scheint, dass die beiden vorherigen Iterationen aus denselben Gründen gescheitert sind, die völlig unoffen gelegt wurden. Es ist zudem sehr schwierig für Unternehmen, die als große Personengruppen agieren, ihre früheren Misserfolge darzulegen, denn wer soll die Schuld tragen? Man stellt sich vor, man sei der Geschäftsführer, der eine große Initiative vorangetrieben hat, die sich als Verschwendung von zig Millionen Euro oder Dollar erwies. Das ist nicht gerade etwas, das man im Lebenslauf anführen möchte. Und trotz des Ansatzes, bei Themen streng und bei Menschen nachsichtig zu sein, tragen letztlich immer nur die Menschen die Schuld. Man wird nicht einer mathematischen Formel die Schuld geben, selbst wenn sie fehlerhaft war. Am Ende gibt man demjenigen die Schuld, der diese Formel entwickelt hat und etwas Falsches hervorbrachte, was viel Geld kostete oder einfach das Erwartete nicht lieferte.
Kieran Chandler: Wie kann man diese Kultur überhaupt ändern, denn letztlich sind wir alle Menschen. Wir wollen nicht, dass unsere Namen mit Dingen in Verbindung gebracht werden, die schiefgelaufen sind. Also, wie kann man diese Kultur tatsächlich verändern?
Joannes Vermorel: Es gibt viele Wege. Zuerst gibt es Möglichkeiten, das Problem nicht noch weiter zu verschlimmern. Zum Beispiel gibt es super toxische Leitsprüche wie “mach es gleich richtig”. Das ist ein Rezept für endlose Probleme. supply chain ist sehr komplex, was bedeutet, dass wenn du Erfolg haben willst, du etwas, das immer wieder scheitert, iterieren, ausspülen und wiederholen musst. Und vielleicht, wenn du super schnell iterierst, wirst du Erfolg haben. Es ist sehr iterativ. Das bedeutet, dass du immer wieder scheitern wirst, bis es funktioniert. Deshalb ist die Vorstellung, “lass es gleich richtig machen”, völlig schädlich, weil sie die Menschen dazu zwingt, all ihre Fehler so diskret wie möglich zu machen und keine Fehler, die passieren, zu kommunizieren.
Das Gegenteil davon ist zum Beispiel “fail fast”, was dem Silicon-Valley-Geist von “move fast and break things” entspricht. Es ermutigt die Menschen, Risiken einzugehen, und ich denke, das ist der erste Schritt. Was es in der supply chain sehr kompliziert macht, ist, dass typischerweise die Kosten eines Scheiterns sehr hoch sein können. Du musst Wege finden, schnell zu scheitern, ohne dein Unternehmen zu gefährden und ohne dabei ein enormes Risiko zu erzeugen.
Kieran Chandler: Es ist ein ziemlich amüsantes Konzept, oder? Du willst scheitern und tatsächlich schnell scheitern. Gibt es viele Möglichkeiten, diesen Prozess zu beschleunigen?
Joannes Vermorel: Zuerst solltest du dich in eine Position bringen, in der Scheitern möglich ist. Es gibt viele Möglichkeiten, die
Kieran Chandler: Bei einem mehrjährigen Vertrag denke ich, dass die schlimmste Situation, die ich gesehen habe, in der Luft- und Raumfahrt lag, wo Verträge über 10 Jahre abgeschlossen wurden. Das ist für mich erstaunlich. Es bedeutet, dass die Leute am Tisch anerkennen, dass ein potenzielles Scheitern nicht schneller eintreten kann als dieser mehrjährige Horizont. Deshalb musst du zuerst darüber nachdenken, wie viel Zeit es dauern wird, die Initiative einzustellen, falls sich herausstellt, dass sie nicht funktioniert.
Joannes Vermorel: Wenn du voranschreitest, stellen die Leute häufig die falschen Fragen, wie zum Beispiel “beweise mir, dass du einen ROI hast.” Das gibt dem Anbieter im Grunde einen enormen Anreiz, mit eklatanten Lügen aufzuwarten. Wenn du einen Anbieter drängst, Fallstudien zu den von ihm erzielten ROIs vorzulegen, wird jeder große Anbieter fantastische Zahlen präsentieren. Zum Beispiel, wenn du SAP in einem Unternehmen mit einem sehr schlechten Ausgangspunkt einsetzt, könntest du fantastische Ergebnisse sehen, die aber auch auf ein neues Managementteam oder einen wirtschaftlichen Aufschwung zurückzuführen sein können. Anstatt sich auf die falschen Dinge zu konzentrieren, solltest du versuchen, herauszufinden, was super schnell scheitert, damit du dich ändern und auf kapitalistische Weise vorankommen kannst.
Aber das bedeutet, dass du anerkennen musst, wenn du etwas tust, das nicht kapitalistisch erscheint, und schnell damit aufhören solltest, zum Beispiel wenn du etwas identifiziert hast, das dem Unternehmen keinen Mehrwert bringt. Dies widerspricht einer Wasserfall-Planung mit einer ausgerollten sechsmonatigen Roadmap, was das Gegenteil von schnellem Scheitern ist.
Kieran Chandler: Lassen Sie uns vom Scheiternspezifischen wegkommen und eher zur positiven Seite übergehen. Ich meine, große Unternehmen wie Amazon und Google hatten Projekte, die gescheitert sind. Wie können Unternehmen aus diesen Misserfolgen lernen, und was sollten sie tun, um daraus zu lernen?
Joannes Vermorel: Zuerst einmal sind viele Misserfolge heutzutage nicht geheim. Zum Beispiel hat Lidl in Deutschland etwa eine halbe Milliarde Euro in ein gescheitertes SAP-Setup investiert. Davon gibt es etwas zu lernen, und jeder Kunde, der ein ähnliches groß angelegtes Projekt durchführen möchte, sollte vermutlich mehr als nur ein paar Stunden investieren, um aus diesem Scheitern zu lernen und herauszufinden, was schiefgelaufen ist. Das sind die spektakulären Fälle, aber es gibt viele weitere Situationen.
Ich weiß, dass zum Beispiel Accenture jetzt vor Gericht gegen Hertz, einen ihrer Kunden in den USA, steht, weil man sich über die Bereitstellung ihrer neuen Website uneinig ist. Es ist schwer, den Schuldigen genau zu bestimmen, da es wahrscheinlich viel komplizierter ist, aber egal, wer schuld ist – in dieser Situation gibt es einen Mangel an Lernerfahrung.
Kieran Chandler: Also, wir sprechen über Misserfolge und wie wichtig es ist, die Ursachen zu verstehen. Was meinst du dazu, Joannes?
Joannes Vermorel: Es gibt viele zugängliche Misserfolge, aber du musst dir Zeit nehmen, sie zu studieren. Die Leute schauen gerne TED Talks und haben eine begeisterte Sicht auf die Zukunft, aber es erfordert eine andere Denkweise, um die Fehler aufzuspüren. Menschliche Schwächen sind meist die Wurzel des Problems, wie Faulheit, mangelnde Neugier und Selbstzufriedenheit. Es erfordert eine bestimmte Einstellung, um dieses Wissen zu kultivieren und zu verstehen, was alles schiefgelaufen ist.
Kieran Chandler: Interessant. Es scheint, als wäre eine etwas pessimistische Denkweise erforderlich, um wirklich zu verstehen und aus Misserfolgen zu lernen. In der supply chain-Branche sind Fehler kostspielig, und viele von ihnen bleiben unbemerkt. Gibt es Branchen, die in dieser Hinsicht besser abschneiden?
Joannes Vermorel: Negatives Wissen ist noch relativ neu. Zum Beispiel wurde 2002 das Journal of Negative Results in Biomedicine ins Leben gerufen, was damals eine massive Kontroverse auslöste. Negative Arbeit ist notwendig, aber durch ihre Veröffentlichung wurden die Arbeiten der Kollegen ad acta gelegt. Selbst in den exakten Wissenschaften fällt es den Gemeinschaften schwer, sich mit negativem Wissen auseinanderzusetzen, obwohl ich glaube, dass es grundlegend ist. Amazon ist eines der Unternehmen, die darin ziemlich gut sind. Sie pflegen eine Kultur schriftlicher Memos statt PowerPoints, was die Logik und Zusammenhänge natürlicher vermittelt.
Kieran Chandler: Das ist faszinierend. Also glaubst du, dass schriftliche Memos effektiver sind, um das Wesentliche eines Problems zu übermitteln?
Joannes Vermorel: Ja, denn Aufzählungspunkte können vage sein und die Botschaft bleibt oft ungesagt. Wenn du Klartext und vollständige Sätze verwendest, ist es viel schwieriger, das Wesentliche des Problems zu verschleiern. Dieser Ansatz hilft dabei, zu erkennen, wann ein Textabschnitt ausweichend ist – ein häufiges Problem in Branchen mit massiver Dokumentation.
Kieran Chandler: Wenn die Leute anfangen würden, all die Dokumentation darüber zu erstellen, was schiefgelaufen ist und was nicht funktioniert hat, würdest du dann nicht in einem Szenario landen, in dem es einfach zu viele Dinge gibt, um sie überhaupt lesen zu können?
Joannes Vermorel: Ich stimme nicht, dass es zu viel Dokumentation gibt. Das Ärgerliche ist, dass in der supply chain – ich meine, die meisten unserer Kunden, selbst die, die sehr große supply chains mit einem Warenwert von über einer Milliarde Dollar betreiben – oft vollständig auf mündliche Überlieferungen vertrauen. Es wird nie etwas schriftlich festgehalten, und das Einzige, was dokumentiert wird, sind Hunderte von PowerPoint-Folien mit Tausenden von zusammenhanglosen Aufzählungspunkten. Es ist, als müsste man zwischen den Zeilen der Aufzählungen lesen, um überhaupt zu verstehen, was gut funktionierte und was nicht.
Das ist der Kern des Problems: Es gibt sehr wenig Dokumentation. Und ich glaube, das hängt auch damit zusammen, dass Misserfolge allgegenwärtig sind. Die meisten Dinge scheitern, und das Management möchte keine umfangreichen Spuren all seiner Fehler hinterlassen, selbst wenn diese Fehler letztlich den Weg zum Erfolg ebneten. Zum Beispiel sagte Edison, dass er tausend Wege gelernt habe, eine Glühbirne nicht herzustellen, bevor er den richtigen Weg fand. Es ist egal, dass du tausend Mal gescheitert bist. Was zählt, ist, dass deine Misserfolge nicht endgültig waren, dass du dein Unternehmen nicht in den Bankrott getrieben und jedes Mal etwas dazugelernt hast, was schließlich zum Erfolg führte.
Aber was ist mit der Dokumentation all dieser Misserfolge? Meine eigene Erfahrung in der supply chain-Branche ist, dass es sehr wenig Dokumentation gibt und die wenigen vorhandenen eher wie IT-Dokumentationen sind, die für Maschinen und nicht für Menschen geschrieben wurden. Sie können tausende Seiten umfassen, sind aber völlig wertlos und sicherlich nicht die Zeit wert, die man fürs Lesen aufbringt.
Kieran Chandler: Fassen wir das jetzt zusammen. Die Hauptbotschaft ist, dass unsere Führungskräfte die Momente feiern sollten, in denen ihre Teams scheitern, und akzeptieren, dass das passiert, weil Menschen grundsätzlich fehlerhaft sind und dies zu erwarten ist.
Joannes Vermorel: Ich würde noch mehr sagen. Es geht darum, wie ein Wissenschaftler zu handeln und seine Erkenntnisse zu dokumentieren. Mir fällt eine schreckliche Anekdote aus den frühen Tagen des Manhattan-Projekts ein. Es gab einen sogenannten Kritikalitätsvorfall, bei dem mit nuklearen Materialien wie Uran experimentiert wurde. Im Labor brachten sie zwei Uranstücke zu nah zusammen, was zu einem Kritikalitätsvorfall führte – quasi einer kleinen nuklearen Explosion, einem Strahlungsausbruch. Der Forscher, der den Ausbruch bemerkte, forderte alle auf, sofort stillzustehen und sich nicht zu bewegen. Er nahm ein Stück Kreide und notierte auf dem Boden exakt, wo jeder im Raum stand. Wenige Wochen später starb schließlich jeder an Strahlenvergiftung. Dank dieses Forschers, der die Einsicht hatte, alle stillstehen zu lassen und ihre Positionen zu notieren, konnte bewiesen werden, dass jeder Meter zählt. Wärst du einen Meter weiter vom Strahlungsausbruch entfernt gewesen, hättest du tatsächlich zwei Tage länger gelebt. Damit erhielten sie die erste empirische Bestätigung, dass Strahlenvergiftung tödlich ist und dass deren Intensität in direktem Zusammenhang mit der Geschwindigkeit steht, mit der man stirbt. Aber siehst du, es erfordert eine relativ resiliente Denkweise, um bei katastrophal schlechten Ereignissen zu solch einer Einsicht zu gelangen.
Kieran Chandler: Es gibt ein Spektrum, bei dem du dich in lebensbedrohlicher Gefahr befindest, aber selbst in Unternehmen, in denen niemandes Leben auf dem Spiel steht, können die Menschen unter enormem Stress stehen. Es ist sehr schwierig, wenn alles auseinanderfällt und du keinen Erfolg hast. Selbst wenn das Unternehmen nicht in Gefahr ist, kannst du als Person unter enormem Stress stehen. Es ist sehr schwer, einen klaren Kopf zu behalten, sich mental zu wappnen und zu sagen: “Nun, wir werden trotzdem Notizen machen. Es ist deprimierend, aber wir schreiben es auf, damit die Menschen, die nach uns kommen, davon profitieren können.”
Joannes Vermorel: Richtig. Es geht nicht nur darum, den Misserfolg zu feiern, sondern so zu handeln, dass dieser Misserfolg genutzt werden kann. Es geht nicht darum, darüber glücklich oder zufrieden zu sein; vielmehr geht es darum, einer katastrophalen Situation ins Auge zu sehen und zu fragen: “Wie können wir sicherstellen, dass unsere zukünftigen Selbst – oder die Menschen, die nach uns kommen – es nicht wiederholen?” Es erfordert eine ganz besondere Anstrengung, um das zu erreichen.
Kieran Chandler: Das sind einige schöne, erheiternde Anekdoten. Nun, das war alles für diese Woche. Vielen Dank fürs Einschalten. Nächste Woche sind wir hoffentlich mit einer fröhlicheren Episode zurück. Bis dahin, danke fürs Zuschauen.